Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 3.) 389 
weiteres zugeben, daß ein Zurückweichen davor vielleicht für einen Augen- 
blick Ruhe schaffen kann, aber, m. H., das wäre eine trügerische Ruhe ge- 
wesen. Denn der Appetit kommt bekanntlich beim Essen. (Abermalige, stürmische 
Unterbrechung auf der äußersten Linken, Rufe bei den Sd.: Unerhört!) Ich 
bin der Ansicht, daß der einmal geglückte Versuch nicht nur einen, sondern 
unzählige Nachfolger gehabt hätte. Um Vorwände werden diejenigen, die 
jetzt diesen Skandal gemacht haben, ja nicht verlegen sein. Jedenfalls dürfen 
wir derartige Vorgänge nicht dulden. Auf diese Weise, m. H., würden wir 
uns schnell einem Chaos nähern. Leider gibt es noch immer viele Elemente, 
die eine Herabsetzung der Armee wünschen. Die Armee darf aber vor jenen 
Elementen nicht zurückweichen, im Interesse der Ordnung und der Gesetze. 
Es ist in den Reden der Herren Interpellanten viel die Rede von der 
Notwendigkeit der Wahrung der Volksrechte gewesen, und ich bin ganz gewiß 
derselben Meinung, aber man darf nicht dabei vergessen, daß die Armee 
ein Teil des Volkes ist und sicherlich nicht der unwichtigste. (Lebhafter 
Widerspruch bei den Sd.) Es ist doch eine unbestreitbare Tatsache, daß 
nicht ein Stein dieser stolzen Mauern hier stände ohne die glorreichen 
Taten unseres Heeres. Die Sicherheit des Reiches ist ohne die Tüchtigkeit 
und Zuverlässigkeit der Armee undenkbar. Da das so ist, so nehme ich an, 
daß die Vorredner die Rechte der Armee von selbst in den Kreis der Güter, 
die sie wahren wollen, einbezogen haben, freilich haben sie das zu erwähnen 
unterlassen. Zu den Rechten und Lebensbedingungen der Armee gehört 
aber, wie der Sauerstoff zum Atmen, daß die Autorität, die Disziplin und 
das Ehrgefühl in ihr wachgehalten werden. (Rufe b. d. Sd.: Leutnants! 
Wackes!) Eine Armee ohne Disziplin verdient schon im Frieden nicht ihren 
Namen, das haben vor mir tausend erfahrene Männer (erregte Zwischen- 
rufe b. d. Sd.) — lesen Sie nur die Worte des Feldmarschalls Moltke darüber 
nach — besser gesagt, als ich es kann. Niemand, der nicht von Parteileiden- 
schaft erblindet ist, kann glauben, daß es der Disziplin in der Armee förder- 
lich ist, wenn man von außen her durch unverantwortliche Treibereien die 
verantwortlichen Stellen zu beeinflussen sucht. Was das Ehrgefühl in der 
Armee bedeutet, weiß jeder, der eine scharfe Kugel hat pfeifen hören. Ich 
rufe die Soldaten hier im Hause zu Zeugen auf. Man hat heute hier 
betont, daß nur — und ich unterstreiche das „nur“ — Handlungen und 
Beleidigungen eines jungen Offiziers in Frage kommen. Man könnte ihn 
einfach wegjagen. Ich habe nach den mir zugegangenen Berichten guten 
Grund zu der Annahme, daß nicht nur ein junger Offizier beleidigt ist. 
Aber selbst wenn die Angabe richtig ist, frage ich mich, ob denn die Leute, 
die das anführen, kein Verständnis dafür haben, was in unserer Armee der 
junge Offizier und Unteroffizier bedeutet. Ich schätze das ehrwürdige Alter 
sehr hoch, um so mehr, als ich leider auch schon darin eingerückt bin. Aber 
ich bin ganz gewiß, m. H., daß die besten Lehren des ehrwürdigsten Greises 
das Beispiel eines einzigen frischen jungen Offiziers oder Unteroffiziers im 
Gefecht nicht ersetzen können. Die Armee braucht ihre jugendlichen Leut- 
nants und Unteroffiziere, und je jünger, um so besser sind sie, um so eher 
werden sie bereit sein, ihr Leben für die Ideale ins Feld zu schlagen. Die 
Armee braucht die jungen Führer so sehr, daß sie gern die Begleiterscheinungen, 
die von den manchmal etwas täppischen Aeußerungen ihres jugendlichen 
Mutes unzertrennbar sind, in den Kauf nimmt. Wir haben ja die Mittel, 
sie zu bändigen, und sind durchaus nicht zimperlich in ihrer Anwendung. 
Aber auch bei der Beurteilung solcher Seitensprünge behält das goldene 
Wort unseres Reglements seine volle Gültigkeit, daß Unterlassungen und 
Versäumnisse eine schwerere Belastung bilden als ein Fehlgreifen in der 
Wahl der Mittel. Und dieser Grundsatz muß auch angewendet werden für
	        
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