400 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 4.)
Im übrigen protestieren wir alle miteinander, soweit wir nicht zur
konservativen Partei gehören, dagegen, daß die Verfassung in Elsaß-
Lothringen schuld sei an den Zaberner Vorgängen. Wer Zabern kennt und
diese brave deutsche Bevölkerung, der muß sich sagen, wenn er ein der-
artiges Urteil hört: wenn wir hätten warten wollen mit der elsässischen
Verfassung, bis die Herren von der konservativen Partei die Zeit für reif
gehalten hätten, dann hätten die Elsässer warten müssen genau so lange,
wie die Mecklenburger warten müssen. Und so lange wollten wir sie nicht
warten lassen. Ich komme zum Schluß. Die Wirkung auf Elsaß-Lothringen
ist eine außerordentlich betrübende, aber allzu pessimistisch wollen wir sie
auch nicht ansehen. Die Elsaß-Lothringer wissen so gut wie wir: Reichs-
kanzler kommen und gehen, und Kriegsminister kommen und gehen, aber
bestehen bleibt der Wille des deutschen Volkes, die Rechte des elsaß-
lothringischen Volkes zu wahren, zu schützen und auszubauen. Die Bevöl-
kerung in Elsaß-Lothringen weiß, daß das deutsche Volk doch stark genug
ist, Ausschreitungen nervös gewordener Militärs in ihre Grenzen zurück-
zuweisen und die Beobachtung der Gesetze zu erzwingen. Aber dem Kanzler
und dem Kriegsminister insbesondere sagen wir: Die Armee besteht nicht
aus eigener Kraft, sie besteht durch den Willen des deutschen Volkes und
nur durch den Willen des deutschen Volkes, und über ihr stehen des
deutschen Volkes Rechte und Gesetze.
Abg. Dr. Ricklin (Els.--L.): Den Gegnern einer friedlichen Entwick-
lung Elsaß-Lothringens konnte nichts Freudigeres zustoßen als das, was
in Zabern und was hier geschehen ist. Wir dagegen, wir Elsaß-Lothringer
Zentrumsleute, stehen blutenden Herzens vor diesem Trümmerfeld. Wie
der Landmann klagend vor den durch Hagel oder durch eine Frostnacht
vernichteten Früchten seiner Arbeit steht, so stehen auch wir, die es auf-
richtig mit der deutschen Sache gemeint haben, vor diesem politischen Trümmer-
feld und klagen, daß unsere Hoffnungen auf eine friedliche und gedeihliche
Entwicklung Elsaß-Lothringens zuschanden gemacht sind. Es steigen uns
fast Zweifel auf, ob wir mit unserer Versöhnungspolitik recht gehabt haben,
und ob das elsaß-lothringische Volk uns auf dieser Bahn noch weiter folgen
wird. M. H., der gestrige Tag war für das Deutschtum ein schlimmerer
Tag, als wenn Deutschland eine Schlacht verloren hätte. Eine heute ver-
lorene Schlacht kann man durch einen morgigen Sieg wieder gut machen.
Aber das, was durch diese Reden an ideellen Werten verloren gegangen ist,
ist vielleicht unwiederbringlich verloren, und das Vertrauen, welches wir
zur Regierung in Berlin verloren haben, wird es Mühe kosten wieder zu
gewinnen. Auch die heutige Rede des Reichskanzlers wird nicht imstande
sein, den ungünstigen Eindruck seiner gestrigen Rede bei uns zu verwischen.
Der Kriegsminister hat gestern mit einem berechtigten Selbstbewußtsein
erklärt, daß man es dem deutschen Heere und dem deutschen Militär ver-
danke, daß dieser stolze Reichstagsbau entstanden ist. Er hat recht, er
hätte hinzufügen können, daß es das deutsche Militär war, welches Elsaß-
Lothringen dem Deutschen Reiche territorial erobert hat. Aber ich sage
ihm heute, daß es das deutsche Militär ist, welches Elsaß--Lothringen dem
Deutschen Reiche nunmehr moralisch verloren hat. Die Aufregung in Elsaß-
Lothringen — das will ich gern zugeben — ist nicht so groß wegen der
Worte, welche der Leutnant v. Forstner gebraucht hat; wir wissen es leider
schon gar zu lange, daß unsere elsässischen Rekruten den schwersten und ge-
meinsten Beschimpfungen in der Kaserne wegen ihrer Stammeszugehörig-
keit ausgesetzt sind, und in der Hinsicht teilen sie das Schicksal der pol-
nischen Rekruten. Der Grund, warum das elsfässische Volk unzufrieden und
erbittert ist, liegt darin, daß die vorgesetzte Behörde des Leutnants v. Forstner