Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

406 Das Lenisqhe Reich und seine einjelnen Glieder. (Dezember 9.) 
Mächte. Dieses Programm deckt sich mit unseren Anschauungen. Auch aus 
den Unterredungen, die ich mit dem russischen Minister des Aeußern, Herrn 
Sasonow, und dem russischen Ministerpräsidenten Kokowzow während der 
willkommenen Besuche beider Herren in Berlin gehabt habe, konnte ich ent- 
nehmen, daß Rußland den Gedanken an territoriale Erwerbungen in Klein- 
asien von sich weist und sein Bestreben übereinstimmend mit uns auf eine 
im Interesse der Türkei selbst liegende und von ihr grundsätzlich als not- 
wendig anerkannte Besserung der Verhältnisse in Armenien richtet. Endlich 
habe ich geglaubt, aus dem Gange der Dinge entnehmen zu können, daß 
die französische Politik mit Dezießng auf ihr Berhältnis zur Türkei von 
einem konservativen Grundzug erfüllt ist. Bei dieser allseitig vorherrschenden 
Zurückhaltung dürfen wir annehmen, daß politische Streitigkeiten wegen 
er Zukunft der Türkei bei den europäischen Großmächten in absehbarer 
Zeit nicht bevorstehen. Es bleibt der besonders in Kleinasien lebhafte wirt- 
schaftliche Wettbewerb der einzelnen Länder. Die großen wirtschaftlichen 
Interessen, die wir in Kleinasien, namentlich in Rücksicht auf das Unter- 
nehmen der Bagdadbahn, zu vertreten haben, beanspruchen unsere ganz be- 
sondere Aufmerksamkeit. Wir haben dem Reichstage bereits im vorigen 
Sessionsabschnitt im Anschluß an Erklärungen der englischen Regierung 
davon Mitteilung gemacht, daß wir mit der englischen Regierung Ver- 
bandlungen eingeleitet haben zu dem Zweck, etwaigen unerwünschten Rei- 
ungen auf wirtschaftlichem Gebiete vorzubeugen und das Unternehmen der 
Bagdadbahn politisch und finanziell ein für allemal sicherzustellen. Wir 
haben fernerhin in letzter Zeit auch mit der französischen Regierung auf 
deren Wunsch Besprechungen gepflogen, welche dem gegenseitigen wirtschaft- 
lichen Wettbewerb beider Länder in denjenigen Gebieten, wo die wirtschaft- 
lichen Betätigungen räumlich zusammentreffen, vorbeugen sollen. Ich will 
dazu noch bemerken, daß die englischen Verhandlungen ziemlich weit vor- 
zeschritten sind, während sich die französischen noch in den ersten Anfangs- 
ladien befinden. Wie schon gesogt, m. H., hat die in so erfreulicher Weise 
fortschreitende Besserung unseres Verhältnisses zu England es uns ermög- 
icht, in freimütigem Gedankenaustausch an die Lösung des Bagdadproblems 
heranzutreten. In Verfolgung des Grundgedankens, durch Verständigung 
über einzelne Fragen des weltwirtschaftlichen und kolonialpolitischen Wett- 
bewerbs zwischen uns und England die Beziehungen beider Länder dauernd 
wieder in die ruhigen Bahnen zurückzuleiten, die sie eine Zeitlang zu ver- 
lassen drohten, haben wir wellerhin mit England Verhandlungen eingeleitet, 
um der möglichen Entstehung von wirtschaftlichen Gegensätzen in afrika- 
nischen Gebietsteilen vorzubeugen. Ohne Beeinträchtigung der Rechte Dritter 
— ich will das scharf unterstreichen — arbeiten wir darauf hin, einen 
billigen Ausgleich für die Interessen beider Teile zu finden. Von ein- 
seitigen Verzichtleistungen Deutschlands ist dabei nicht die Rede, ebenso- 
wenig, wie die Presse behauptet hat, von Kompensationen, die in Border- 
asien für Vorteile in Zentralafrika oder umgekehrt gemacht werden könnten. 
Ich muß mich für heute auf diese Andeutungen beschränken, weil die Ver- 
handlungen noch im Gange sind. Ich will nur hinzufügen, daß ich Grund 
u der Annahme habe, es werde das Ergebnis der Verhandlungen, wenn 
* in der von beiden Regierungen verfolgten Richtung abgeschlossen werden, 
in Deutschland und in England als eine annehmbare Lösung möglicher 
Gegensätze begrüßt werden. Ich hoffe, daß alsdann das Vertrauen, das 
unsere gegenwärtigen Beziehungen zur englischen Regierung kennzeichnet, 
auch auf diejenigen Kreise in beiden Ländern Übergehen wird, die einer 
Wiederannäherung der beiden stammverwandten Völker einstweilen noch 
mit einer gewissen Skepsis gegenüberstehen. Lassen wir, m. H., das Ver- 
  
  
  
  
 
	        
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