Das Denisqhe Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 9.) 411
bemüht habe. Ich will das Verdienst ganz gewiß nicht verkümmern; ich
will namentlich die Stellungnahme Deutschlands beim Bukarester Frieden
nicht kritisieren. Es ist eine Folge des Balkankrieges, nicht der Großmächte,
daß der Balkanbund selbst nicht zustande gekommen ist. Hätte Bulgarien nicht
wegen Mazedoniens den Vorstoß unternommen, dann wäre der Einfluß Ruß-
lands, der nunmehr dadurch, daß der Balkanbund nicht zustande gekommmen
ist, gemindert ist, außerordentlich stark geworden sein, zu unserem Nachteil.
In den einzelnen Balkenstaaten sind die Zwistigkeiten voraussichtlich dauern-
der Art; sie liegen in den nationalen und religiösen Gegensätzen in allen
Staaten national, kulturell und konfessionell gemischter Bevölkerung be-
gründet. Wenn nun jetzt in den Balkanstaaten Neuregelungen betreffs der
bürgerlichen und der religiösen Gleichberechtigung der Angehörigen der ein-
zelnen Balkanstaaten eintreten, so darf ich wohl annehmen, daß, wenn der
Berliner Vertrag nicht mehr als gültig angesehen wird, Deutschland dafür
eintritt, daß die Garantien, die in diesem Vertrag für die bürgerliche und
religiöse Gleichberechtigung der Bevölkerung gegeben waren, von neuem
eingeführt werden. Oesterreich hat durch den Dreibund in diesem Kriege,
wenn auch mit eigenen erheblichen Geldopfern, sein Ziel eines selbständigen
Albaniens erreicht sowie die Sicherung des Adriatischen Meeres als des
einzigen Ausfallstores seines maritimen Handels, um den Ausdruck des
Kaisers von Oesterreich zu wiederholen. Der Dreibund ist für unsere inter-
nationalen Verhältnisse unentbehrlich. An der Großmachtstellung Oester-
reichs hat Deutschland ein großes, ich möchte fast sagen, das gleiche Inter-
esse, das Oesterreich an der Stellung Deutschlands hat. Da meine ich
— und dazu gibt mir Anlaß die vom Reichskanzler selbst hervorgehobene
Nuance in der Auffassung des Bukarester Friedens zwischen Oesterreich und
Deutschland —, daß das Band, das die beiden Völker umschließt, möglichst
fest sein muß, und daß alles zu vermeiden ist, was dieses Band lockern
könnte. Dazu gehört auch, daß vermieden werde, daß verschiedene Auf-
fassungen in einer solchen Frage in die Oeffentlichkeit gelangen, und daß
sie sich überhaupt soweit entwickeln, daß sie zum Rückzug des einen Kon-
trahenten führen. Wie warm Oesterreich die rumänischen Interessen ver-
treten hat, das hat gerade das rumänische Weißbuch gezeigt. Dort ist dar-
getan, wie in allen Stadien Oesterreich für die rumänischen Interessen
eingetreten ist. Infolge des Balkankriegs ist nun die Türkei aus dem euro-
päischen Konzert ausgeschieden. Die türkische Frage ist eine Frage des Be-
standes von Kleinasien geworden. Allerdings ist damit die Türkei nicht vom
europäischen Boden verschwunden. Die Bedeutung Konstantinopels für die
türkische Bevölkerung und für alle Bekenner des Islam ist die gleiche ge-
blieben. Genau wie früher wenden sich auch jetzt noch die zweihundert-
zwanzig Millionen Mohammedaner, die es gibt, mit ihren Gedanken all-
täglich nach Konstantinopel hin; und die Türkei darf darauf rechnen, daß
ihr von der mohammedanischen Bevölkerung Kleinasiens etwa achtzig Mil-
lionen Menschen zur Verfügung stehen, die an dem Sultan treu festhalten.
Dennoch ist die Stellung des Sultans in Kleinasien insofern schwach, als
auch dort einzelne Gebiete dem Abfall zuneigen. Armenien würde lieber
zu Rußland gehen, als bei der Türkei bleiben, Syrien möchte autonom
werden, für Palästina gilt das gleiche. England hat ganze Teile so für
sich zu gewinnen gewußt, daß sie gewißermaßen unter englischer Herrschaft
stehen, und Frankreich hat durch seine Schulen großen Einfluß in Klein-
asien gewonnen. Wir suchen unsern Einfluß durch den Bau der Bagdad-
bahn zu gewinnen. Der Reichskanzler hat von Verhandlungen gesprochen;
wir wissen, daß Verhandlungen zwischen Rußland und der Türkei und Ver-
handlungen zwischen Frankreich und der Türkei über Eisenbahnkonzessionen