Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

434 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 12.) 
sie nicht ein der Entwicklung unterworfenes Gebilde? Die Sozialdemokratie 
ist keine Zwangspartei. Sie will keine Vergewaltigung, sondern sie ist die 
Partei der Gleichberechtigung aller Bürger und verwirft daher auch die 
Herrschaft einer Minderheit. Unser Kampf richtet sich gegen die bestehende 
Klassenherrschaft. Wir wollen aber keine neue aufrichten. Wir sind auf dem 
Wege zu dieser Entwicklung, denn die Freunde des parlamentarischen Systems 
haben zugenommen. Dieser Entwicklung kann sich niemand entgegensetzen, 
auch kein Monarch, und wer es mit dem Monarchen gut meint, der rät ihm, 
diese Entwicklung nicht zu hemmen, sondern die Hand dazu zu bieten, und 
er rät ihm auch, die Wahlreform in Preußen durchzuführen. Wir bekämpfen 
nicht die Rechte des Kaisers, wir kämpfen um die Gewinnung der politischen 
Ueberzeugung der Mehrheit des Volkes. Das ist ein Ringen um die Volks- 
seele und wer dabei der Isolierte ist, darüber täuschen wir uns nicht. Da 
sind wir guter Hoffnung. Die Beispiele von Frankreich und England können 
nicht ohne Wirkung auf die Psychologie des deutschen Volkscharakters bleiben. 
Reichskanzler v. Bethmann Hollweg: M. H.! Wohin die ver- 
fassungsrechtliche Entwicklung führen würde, von der der Abg. David am 
Schlusse seiner Rede gesprochen hat, das ergibt sich aus den sozialdemokrati- 
schen Anträgen zur Verfassungsänderung. Diese Anträge bedeuten eine 
völlige Verschiebung der Gewalten. Sie verlangen nämlich die Ernennung 
und Entlassung des Reichskanzlers auf Grund eines Beschlusses des Reichs- 
tages. Sie verlangen: die Entscheidung über Krieg und Frieden solle dem 
Reichstag zustehen. Was bedeutet das anderes als die Macht und Gewalt 
des Kaisers, die in der Verfassung firiert ist, vollkommen abzuschwächen? 
Der Abg. David hat an ein Wort von mir angeknüpft, das ich über Zabern 
gesagt habe. Ich habe damals im Verlaufe der Debatte gesagt, es schiene 
mir die Gefahr aufzutauchen, als solle eine Kluft zwischen Armee und Bolk 
geschaffen werden. Der Abg. David hat gesagt, eine solche Kluft bestehe 
nicht, er fürchte auch nicht, daß sie entstehe, aber eine solche Kluft bestehe 
schon jetzt zwischen den Offizieren und den Mannschaften. (Sehr richtig! 
bei den Sd. Große Unruhe, Glocke des Präsidenten, erneute Rufe bei den 
Sd.: Sehr richtigls) M. H.! Die Rufe „Sehr richtig!“ beweisen mir nur, 
daß die Herren von der sozialdemokratischen Fraktion in unserem Heere 
nicht Bescheid wissen. Es gibt kein Heer in der Welt, in dem das ver- 
trauensvolle und gute Verhältnis zwischen Offizieren und Soldaten so ge- 
pflegt wird wie in dem deutschen Heere. (Lachen und Zwischenrufe bei 
den Sd.) Wer das bestreitet (Rufe bei den Sd.: Das weiß jeder, der Soldat 
gewesen ist!), macht die Augen nicht auf. (Fortgesetzte Unruhe und an- 
dauerndes Läuten des Präsidenten.) M. H., lesen Sie in der Geschichte 
unserer Kriege nach. Da werden Sie finden, daß es gerade dieser Zu- 
sammenhalt zwischen der Mannschaft und dem Offizierskorps gewesen ist, 
der dem deutschen Heere die größte Stärke gegeben hat. Haben Sie nicht 
gerade in diesem Jahre bei den zahlreichen Regimentsfesten und Stiftungs- 
festen, die gefeiert worden sind, gesehen, wie die alten Soldaten zu Tausenden 
sich bei ihrem Regiment versammelt haben und mit ihrem Regiment die 
Erinnerung an die großen Zeiten, die das Regiment verlebt hat, und die 
Erinnerungen an ihre eigene Soldatenzeit feierten? M. H., ich halte es 
für sehr falsch und sehr verhängnisvoll, wenn hier in diesem Hause von 
der Sozialdemokratie versucht wird, Unfrieden in das innere Gefüge der 
Armee zu treiben. M. H., Sie haben damit auch kein Glück. M. bei 
der gestrigen Rede des Abg. Erzberger war ich nicht anwesend, *5 habe 
sie erst heute früh im Bericht gelesen. Ich bedauere es aufrichtig, daß die 
Ausführungen des Herrn Erzberger mich nötigen, auf meine Haltung in 
der Zaberner Angelegenheit noch einmal zurückzukommen. Der Abg. Erz-
	        
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