Die ästerreichisc-ungerische Monarcie. (November 19.) 473
feststellen, daß die nunmehr überwundene lange, schwere Krise als eine
historische Notwendigteit betrachtet werden muß, welcher entgegenzutreten
gewiß nicht unsere Aufgabe war. Während der europälische Besitz der Türkei
nunmehr im großen und ganzen auf deren natürliche und ethnographische
Grenzen eingeschränkt erscheint, wuchsen die christlichen Balkanstaaten sämt-
lich über die bisherigen Grenzen hinaus und sehen reicher Kulturarbeit in
den neuerworbenen Gebieten entgegen. Wenn auch die Grenzbestimmungen
manche Unzufriedenheit weckten und Rankünen zeiligten, steht doch zu hoffen,
daß die Erinnerung an die Schrecknisse der durchgemachten Kämpfe und
das Bedürfnis nach Ruhe und Erholung die Oberhand behalten werden.
Die Beziehungen zwischen den Großmächten haben in der abgelaufenen
Krise eine unerwartet große Tragfähigkeit bewiesen. Diese Resistenzkraft ist
nicht zum geringen Teile der vorhandenen, durch die Evolution am Balkan
nicht erschütterten Equilibrierung der Kräfte in Europa zuzuschreiben. Dank
dem Friedensbedürfnisse und dem Abhandensein wirklich vitaler Interessen-
kollisionen konnte sich die Festigkeit der europäischen Gruppierungen be-
währen, ohne die Gefahr der Konflagration heraufzubeschwören. Diese
Festigkeit kam insbesondere in der unentwegten tatkräftigen loyalen Unter-
stützung zum Ausdrucke, welche uns unsere bewährten Bundesgenossen, das
Deutsche Reich und Italien, während der Krise angedeihen ließen. Der
Dreibund, welcher lange vor Eintritt des auf das kommende Jahr fallenden
Endtermines am 7. Dezember 1912 erneuert werden konnte, hat seither
Proben seines unerschütterten Fortbestandes und ungelockerten Gefüges ge-
geben. Mit dem an gewissen Balkanfragen gleich uus direkter interessierten
Königreiche Italien befanden wir uns in vollster Uebereinstimmung, so daß
die beiden alliierten Mächte eine Aktion entfalten konnten, deren solidarische
Durchführung die Intimität ber beiderseitigen Beziehungen nur noch stei-
gerten. Das Deutsche Reich war zwar an diesen Fragen nicht unmittelbar
interessiert, erbrachte aber neuerdings den Beweis dafür, daß wir in ernsten
Stunden bedingungslos auf seine Bundestreue zählen können. Die erfreu-
liche Besserung der deutsch-englischen Verhältnisse mußte auch für die Mo-
narchie von erheblichem Vorteile sein, und die streng objektive Führung der
englischen auswärtigen Politik trug wesentlich dazu bei, daß die zahllosen
Schwierigkeiten der Lage ohne ernstliche Verstimmung zwischen den beteiligten
Mächten beseitigt werden konnten. Ich nahm zuvor Gelegenheit, darauf
hin zuweisen, daß unsere Beziehungen zum Russischen Reiche während der
ganzen Dauer der Krise korrekte und freundschaftliche blieben. Die Ent-
wicklung der Balkanverhältnisse beseitigte manchen Anlaß zu Mißverständ-
nissen zwischen den beiden benachbarten Mächten. Sie hat die Reibungsflächen
zwischen ihnen nicht nur vermindert, sondern zeitigte vielfach eine erfreu-
liche Uebereinstimmung der Auffassungen und der Interessen, welche für die
zukünftige Entwicklung unserer Beziehungen nur von bestem Einfluß sein
kann. Wie Ihnen bekannt, gibt es keine greifbaren Interessengegensätze, die
uns von Frankreich trennen. Wenn zeitweilig einige uns wenig freund-
liche Stimmen in der Republik laut werden, so findet sich hierfür kaum
eine Erklärung: erfreulicherweise haben wir keinen Grund zu der Annahme,
daß diese Aeußerungen die Dispositionen der maßgebenden Faktoren wider-
sviegeln. Es wurde bereits erwähnt, daß sich Rumänien, dessen berechtigte
Wünsche österreichisch-ungarischerseits von Anbeginn der Balkankrise an mit
Nachdruck vertreten wurden, in dem serbisch-bulgarischen Kriege Gelegenheit
bot, sein Programm voll zur Durchführung zu bringen. Wir begleiten das
mit uns durch enge Freundschaft verbundene Königreich, wie in der Ver-
gangenheit, auch weiterhin mit unseren wärmsten Sympathien. — Was
unser Verhältnis zu den Balkanstaaten anbelangt, so werden wir ihnen