Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

Die Ssterreichisch-ungarische Menarchie. (November 21.—25.) 475 
eine konsolidierte innere Politik betreibe. Konsolidierte Zustände könnten 
aber durch die Parlamentswache nicht gefördert werden. 
Das Mitglied des Magnatenhauses Prinz Ludwig zu Windischgrätz 
(oppositionell) unterzog die Politik des Ministers des Aeußern einer ab- 
fälligen Kritik. Die guten Beziehungen mit Italien seien zurzeit nicht so 
sehr für Oesterreich-Ungarn als für die italienische Politik unentbehrlich 
wegen der Förderung ihrer albanesischen Bestrebungen auf Kosten Oester- 
reich-Ungarns. Die Wehrmacht habe während der Krise glänzend eine 
Feuerprobe bestanden, und die Völker beider Staaten hätten die Behaup- 
tungen jener gründlich Lügen gestraft, welche womöglich bei jeder Nation 
der beiden Staaten irredentistische und zentrifugale Bestrebungen sähen. 
Graf Julius Andrassy (oppositionell) hielt die Resultate der öster- 
reichisch-ungarischen Balkanpolitik keineswegs für sehr günstig. Er glaube, 
daß der Minister die Frage mit den Verbündeten der Monarchie nicht ins 
reine gebracht habe, ehe er die entsprechende Aktion einleitete. Allerdings 
sei auch er nicht der Ansicht, daß Deutschland irgendwie malitiös vor- 
gegangen sei. Er sei auch heute mit voller Ueberzeugung unbedingter An- 
hänger des Dreibundes. 
Graf Apponyi (oppositionell) gab der Rede des Grafen Tisza nach 
dem russischen Interventionsanerbieten einen großen Teil der Schuld an 
den späteren Verwicklungen. Wie könne man behaupten, sagte er, daß der 
Dreibund in seiner Kraft nicht gelockert sei, da doch Deutschland eine der 
österreichisch-ungarischen völlig entgegengesetzte Politik verfolgt und auch 
Rumänien sich diesem Standpunkt angeschlossen habe. Nicht nur die Frage 
der Revision, sondern auch der zweite Balkankrieg hätten Beweise dafür 
geliefert, daß Oesterreich-Ungarns Aktion und diejenige Deutschlands sich 
gekreuzt hätten. Er bekenne sich auch jetzt als Anhänger der Dreibunds- 
politik; diese könne ihn jedoch nicht dazu bewegen, die in dieser Gestaltung 
sich zeigenden Risse zu ignorieren. 
21. November. (Schloß Neuhübel in Schlesien.) Der 
frühere langjährige Landeshauptmann von Mähren Graf Felix 
Better von der Lilie f im 84. Lebensjahre. 
21. November. Begnadigung des Triester Studenten Mario 
Sterle durch Kaiser Franz Joseph. 
Sterle wurde im vergangenen April wegen Hochverrats und Majestäts- 
beleidigung, die in der Sendung irredentistischer Flugschriften aus Rom an 
seine Triester Adresse erblickt wurden, zu fünf Jahren schweren Kerkers 
verurteilt. 
22. November. (Wien.) König Alfons von Spanien traf 
zum Besuch des Kaisers Franz Joseph ein. 
25. November. (Budapest.) Politisches Kapital. 
Im Verlaufe einer Rede, die Ministerpräsident Graf Tisza gelegent- 
lich eines Banketts hielt, sagte er u. a. folgendes: Unsere Feinde suchten 
namentlich in französischen Finanzkreisen den Glauben zu erwecken, daß 
es gelingen würde, gewisse mit den Lebensinteressen unseres Landes im 
Widerspruch stehende politische Ziele zu erreichen, falls Frankreich seine 
Kapitalien unserer Volkswirtschaft entzöge. Man suchte in Frankreich einer. 
seits den Glauben an unsere Kreditwürdigkeit zu erschüttern, andererseits 
die Hoffnung zu erwecken, daß wir genötigt sein würden, den Dreibund 
zu verlassen, da wir sonst infolge der ablehnenden Haltung des französischen
	        
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