Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

krankreich. (Januar 24.) 529 
Bis zur Beendigung der Legislaturperiode verbleibt noch ein Jahr. 
Es kann fruchtbar an Ergebnissen sein, wenn es methodisch angewandt 
wird. Die Regierungen, die uns vorausgegangen sind, haben ohne Aus- 
nahme die Notwendigkeit einer Wahlreform proklamiert. Das Votum der 
Kammer verpflichtet uns dazu, diese Reform ohne Aufschub durchzuführen 
durch das Einvernehmen der Republikaner und auf der Grundlage einer 
billigen Vertretung der Minderheiten. Die Klugheit, die Umsicht und die 
Erfahrungen des Senats werden uns dabei unterstützen. Der Senat wird 
den Entwurf der Einkommensteuer beraten. Es liegt im Interesse der 
Demokratie, in kurzer Frist dieses Werk fiskalischer Gerechtigkeit zu voll- 
bringen, einerseits um den schwerbelasteten Grundbesitz zu erleichtern, 
andererseits um die kleinen und mittleren Steuerzahler, insbesondere die 
Familienväter, zu entlasten. Der Senat hat weiterhin die Reform der 
Kriegsgerichte zu vollenden sowie das Gesetz über die Kadres der Kavallerie, 
das im Interesse der Landesverteidigung als unerläßlich gilt. In der 
Kammer verlangen wir eine unverzügliche Beratung des mit Spanien ab- 
geschlossenen Vertrages über Marokko. Die Zustimmung des Parlaments 
wird uns gestatten, Marokko in endgültiger Weise zu organisieren und ihm 
ebenso wie Algerien und Tunesien die Wohltaten des Friedens zu teil werden 
zu lassen. Die Regierungserklärung betont weiter die Notwendigkeit, das 
Budgetgesetz für 1913 zu Ende zu führen, um die sozialen, weltlichen, wirt- 
schastlichen und fiskalischen Reformen in Angriff zu nehmen, die immer 
dringender werden. Sie zählt diejenigen Entwürfe auf, die bereits dem 
Parlament unterbreitet sind, darunter die Vorlage über die Pulverversorgung 
der Armee, über die drahtlose Telegraphie, über die Niederlegung der Be- 
festigungen von Paris, über die Bekämpfung der Tuberkulose, über das 
Lehrlingswesen, über das Zollsystem der Kolonien. Die Erklärung gibt zu, 
daß es vielleicht nicht möglich sein wird, alle diese Vorlagen zu ver- 
abschieden, sie stellt deshalb zwei Vorlagen in den Vordergrund als be- 
sonders dringend: die Reform der Schulen einschließlich der Verbesserung 
der Ausbildung und der Besoldung der Lehrer. Die weltliche Schule, sagt 
die Erklärung, stelle einen Teil der Lebenskraft der Republik dar, und wenn 
die Republik darauf verzichten würde, die weltliche Schule zu verteidigen, 
so würde sie sich selbst verleugnen. Als zweite dringende Reform betrachtet 
die Regierungserklärung die Frage des Beamtengesetzes, denn es sei un- 
erläßlich, die Pflichten und die Rechte der Staatsdiener zu präzisieren und 
miteinander in Einklang zu bringen. Mehr als jemals muß unsere Auf- 
merksamkeit und Sorgfalt auf die auswärtigen Probleme gerichtet bleiben, 
welche uns insbesondere im Orient und im äußersten Orient gestellt sind. 
Wir bleiben unseren Bündnis= und unseren Freundschaftsverhältnissen treu. 
Dies ist das unwandelbare Prinzip unserer auswärtigen Politik. Die Er- 
fahrung der letzten Monate hat in ausgiebigster Weise dargetan, was die 
diplomatische Aktion Frankreichs an moralischem Ansehen und überzeugender 
Kraft vermag, wenn sie sich in den Dienst des Friedens der Welt stellt, 
wenn sie in bezug auf die übrigen Nationen freimütig und höflich auftritt 
und wenn sie sich in enger Verbindung und stetiger Harmonie mit ihren 
Freunden und Verbündeten befindet. 
24. Januar. (Kammer und Senat.) Annahme des Re- 
gierungsprogramms. 
Das Ministerium Briand erhält für sein Programm mit 324 gegen 
77 Stimmen ein Vertrauensvotum. 172 Abgeordnete enthalten sich der 
Abstimmung, und zwar 108 Radikale, 7 Mitglieder der demokratischen 
Linken, 15 sozialistische Revublikaner, 2 geeinigte Sozialisten, 5 gemäßigte 
Europäischer Geschichtskalender. LIV. 34
	        
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