Tũrkei. (Januar 23. 24.) 629
die Demonstranten: „Wir wollen keinen schändlichen Frieden!“ Bald sah
man auch den Freiheitshelden Oberst Enver Bey ankommen. Die Menge
macht ihm Platz und Enver begibt sich ungehindert direkt ins Kabinett des
Großwesirs Kiamil. Enver setzte dem Großwesir den furchtbaren Ernst der
Lage und die Ueberreizung des Volkes, dem ein Friedensschluß unter solchen
Bedingungen unverständlich sein würde, in kurzen Worten auseinander.
Kiamil antwortete sofort, daß er bereit sei, zur Verhütung schwerer Er-
schütterungen des Landes abzudanken. Er unterzeichnete auch sofort seine
Demission und bat Enver, diese dem Sultan zu unterbreiten. Enver fuhr
mit dem Schriftstück sogleich im Automobil nach dem Palais von Dolma-
bagtsche. Der Kriegsminister hatte, als er von der Demonstration Kenntnis
erhielt, den Hof der Pforte durch ein Bataillon Infanterie besetzen lassen,
doch blieb das Militär der Menge gegenüber untätig. Als bei dem Ein-
dringen Enver Beys nach seiner Rückkehr aus dem Sultanspalaste die Ad-
jutanten Kiamil und Nazim Paschas feuerten, erschoß Enver Bey den
Kriegsminister Nazim. Auch die Adjutanten und sechs niedere Beamte
wurden im Tumult getötet. Dann hielt er von der Pforte aus eine große
Ansprache an die Menge und teilte mit, daß Mahmud Schefket zum Groß-
wesir und Izzet Pascha zum Generalissimus ernannt sei. Vor der Pforte
bewegte sich eine Menge von 2000 bis 3000 Personen. In ihrer Mitte
wurden fortgesetzt Ansprachen gehalten und Rufe ausgebracht: „Hoch die
Freiheit und das Komitee!“ „Nieder mit den Tyrannen!“ Das neue
Ministerium setzt sich zunächst folgendermaßen zusammen: Mahmud Schefket
Großwesir und Kriegsminister, Prinz Said Halim Präsident des Staats-
rats, Hadji Adil Minister des Innern, Mahmud Pascha Marineminister,
Ibrahim Pascha, der frühere Wali von Konstantinopel, Justizminister,
Mukhtar Bey Minister des Aeußern, Rifaat Pascha Präsident des Rech-
nungshofes, Finanzminister Hairi Bey, der früher bereits Minister der
frommen Stiftungen dieses Ministeriums war, Schukri Bey Unterrichts-
minister, Djelal Bey, früherer Wali von Smyrna, Handelsminister, Batzaria
Effendi, ein Christ und Kutzowalache, ist Minister der öffentlichen Arbeiten,
Oscan Effendi, ein Christ, und zwar ein Armenier, steht an der Spitze
des Post= und Telegraphenwesens. Es wird mit deutlich erkennbarer
Absicht vermieden, ausgesprochene Jungtürken in das Kabinett hinein-
zunehmen.
23. Januar. (Konstantinopel.) Manifest der Partei „Ein-
heit und Fortschritt".
Es klagt das Kabinett Ghazi Mukhtar wegen des Friedens von
Lausanne des Hochverrats an. Es hebt dann hervor, daß der König von
Bulgarien die Schwäche des Kabinetts Kiamil ausgenützt habe. Trotz des
Heldenmuts der an der Tschataldschalinie stehenden türkischen Armee sei
diese Regierung entschlossen gewesen, einen unehrenhaften Frieden mit dem
Balkanbund abzuschließen; Kiamil Pascha trage die Hauptschuld an dem
Unglück des Landes. Das Heil und die Zukunft des ottomanischen Reiches
schwebten in größter Gefahr. Die Nation habe recht, wenn sie sich jetzt
erhebe. Sie werde unter keinen Umständen ihre heiligen Rechte auf die
europäische Türkei preisgeben und werde alle Opfer bringen, um Rumelien
zu behaupten.
24. Januar. Hadji Adil, der neue Minister des Innern,
richtete ein Rundschreiben an alle Provinzwalis, in denen er die
Gründe für den Sturz des Kabinetts Kiamil auseinandersetzt. Die