Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

664 Serbien. (Mai 28.) 
Ministerpräsident Paschitsch beantwortet die Interpellation über die 
äußere Politik der Regierung mit einem Exposé über die serbische Politik 
vom Beginn des Krieges bis zum gegenwärtigen Augenblick, unter be- 
sonderer Berücksichtigung der Beziehungen zu Bulgarien. Er sagte unter 
anderem: Die Großmächte erklärten allerdings zu Anfang des Krieges 
ihr territoriales Desintêressement, trotzdem nahmen sie Serbien gerade 
jene Gebiete weg, die zum alten Serbenreiche gehörten und für Serbiens 
politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit unbedingt notwendig ge- 
wesen wären. Serbien fügte sich gutwillig mit der Erklärung, daß es 
dafür von den Großmächten Ersatz auf anderer Seite erwarte. Es drückt 
uns, daß die Großmächte dadurch, daß sie den österreichischen Vorschlag 
bezüglich Albaniens sich zu eigen machten, auf die schließliche Lösung 
der Balkanfrage Verzicht leisteten und einen Zustand schufen, der für sie 
auf eine lange Reihe von Jahren die Quelle von Sorgen und Unannehm- 
lichkeiten bleiben wird. Mit dem endlichen Abschluß des Friedens mit der 
Türkei sind keineswegs alle Fragen gelöst. Auf der Tagesordnung stehen 
Fragen über Gebietsabgrenzungen der Balkanstaaten untereinander, von 
deren gerechter Lösung die weiteren Erfolge und der Wohlstand der Balkan- 
völker abhängen. Am wenigsten Schwierigkeiten bietet die Auseinander- 
setzung mit Montenegro. Bei strittigen Punkten, wie in Djakoviza und 
Pleolje, wird ein Einverständnis ohne jede Schwierigkeit erreicht werden. 
Die Grenzen Albaniens, die die Großmächte festgesetzt haben, sind so- 
genannte ethnographische, die am wenigsten maßgebend sind, wenn es sich 
darum handelt, aus Gebieten, die durchweg gebirgig und schwer zugäng- 
lich sind, einen Staat zu bilden. Zu Bulgarien stehen wir als Verbündete 
in freundschaftlichen Beziehungen. Das serbisch-bulgarische Bündnis diem 
als Grundlage für den allgemeinen Balkanbund. Selbstverständlich sind im 
Bündnisvertrag viele Ereignisse vorgesehen, und dementsprechend Bestim- 
mungen über die Rechte und Pflichten der beiden Verbündeten festgesetzt. 
Jeder Bundesvertrag wird auf Grund gewisser Voraussetzungen geschlossen, 
wenn sich aber im Laufe der Zeiten die Verhältnisse und Tatsachen, auf 
denen er beruht, ändern, daun muß er einer Revision unterzogen und mit 
neuen Tatsachen in Einklang gebracht werden, wenn der Wunsch nach einem 
weiteren Bestande des Vertrages rege sein soll. Die Regierung erfüllte ihre 
Bundespflicht treu, weil sie von der Ueberzeugung durchdrungen war, daß 
ihre Treue und Gewissenhaftigkeit endlich anerkannt und belohnt werden 
müßten. Daher ist es begreiflich, daß sie sich gehütet hat, während des 
Krieges den Bundesgenossen Zugeständnisse abzuzwingen, weil solches der 
Ritterlichkeit des Serbenvolkes nicht entspräche. Die Tatsachen, auf denen 
der Bündnisvertrag und die Militärkonvention beruhen, änderten sich vor 
dem Rriege und während des Rrieges dermaßen, daß nur diejenige Linie 
unverändert blieb, welche unter gewissen Bedingungen die serbisch-bulgarische 
Grenze Mazedoniens darstellt, die aber auf Grund von vertraglich vor- 
gesehenen Tatsachen firxiert war. Infolge totaler Aenderung dieser Tat- 
sachen ist diese Grenzlinie nicht aufrechtzuerhalten. Der Vertrag kann nicht 
in diesem einen Punkte Gültigkeit behalten nach der fundamentalen Wand- 
lung aller anderen. Die Differenzen zwischen Serbien und Bulgarien be- 
schränken sich nicht auf die Deutung und Anwendung des Vertrages, son- 
dern drehen sich hauptsächlich um die Frage, ob der Vertrag noch gilt oder 
nicht, weil tatsächlich viele der eingegangenen Verpflichtungen unerfüllt 
geblieben und zahlreiche vertragsmäßige Lasten nicht getragen und Pflichten. 
nicht geleistet worden sind, und weil die tatsächlichen Kriegserrungenschaften 
hauptsächlich durch die Einflüsse von außen wesentliche Aenderungen gegen- 
über den Annahmen bei dem Vertragsschlusse erfahren haben. Nach dem
	        
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