Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

764 Mebersicht über bie politische Entwichlung des Jahres 1913. 
handlungen ihrer Regierungen parallel, die naturgemäß die Auf- 
merksamkeit der Parlamente erregten und in der Presse ihren Wider- 
hall fanden. Leicht stellte sich dabei die Beobachtung auf den Stand- 
punkt, ob in den Londoner Beschlüssen die Absichten des seit 
30 Jahren bestehenden Dreibundes auf möglichste Erhaltung des 
Status quo ante oder die Rücksichtnahme der Tripleentente auf 
die Wünsche Rußlands, unter dessen Agide der Valkanbund ge- 
schlossen worden war, das Übergewicht gewinnen würden. Gleich- 
zeitig versäumte es Rumänien nicht, seine Ansprüche auf Kom- 
pensationen bei Verschiebung der Machtverhältnisse auf der Balkan= 
halbinsel wenigstens Bulgarien gegenüber schon während der Londoner 
Verhandlungen energisch geltend zu machen. 
Eine weitere Komplikation erhielten die Friedensverhand- 
lungen dadurch, daß Griechenland trotz seiner Teilnahme an den 
Verhandlungen der Konferenz die Feindseligkeiten zu Wasser und 
zu Lande nicht unterbrochen hatte und daß ebenso Montenegro die 
Belagerung von Skutari trotz des Waffenstillstandes fortsetzte, weil 
der türkische Kommandant der Festung von Unterbrechung des 
Krieges keine Kenntnis hatte oder sie nicht anerkannte. Auch die 
Form, in der die Geschäfte der Friedenskonferenz geführt wurden, 
war einem billigen Ausgleich der widerstreitenden Interessen nicht 
günstig. Denn jede der verbündeten Regierungen hatte eine Stimme 
und führte abwechselnd den Vorsitz, so daß die Türkei jederzeit 
majorisiert werden konnte. Da jeder türkische Gegenvorschlag auf 
die Forderungen der Verbündeten als unannehmbar bezeichnet wurde, 
so war die Diplomatie der Hohen Pforte auf die mäßigende Ein- 
wirkung der Großmächte angewiesen und genötigt, auf die Richt- 
linien der Politik Petersburgs, Wiens und Roms besondere Rück- 
sicht zu nehmen. Unter diesen Umständen kamen die Verhandlungen 
bis zum 2. Januar nur insofern vorwärts, als die Botschafter- 
reunion die von Österreich und Italien vorgeschlagene Festsetzung 
der Autonomie Albaniens „im Prinzip“ annahm. Dadurch wurde 
die von dem Balkanbunde zur Verteilung unter sich erhoffte Beute 
wesentlich eingeschränkt; um so weniger glaubte die Majorität der 
Friedenskonferenz deshalb von der Forderung abstehen zu können, 
daß außer dem eroberten Gebiet auch noch die unbezwungenen
	        
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