Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

76 Das Veutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar 19.) 
alles andere, nur nicht christlich sind. Also, meine Herren, nicht einmal 
Friede innerhalb der Konfessionen und noch viel weniger Friede der Kon- 
fessionen gegeneinander! Es ertönt in unserer Zeit immer dringender der 
Ruf nach der Sammlung aller gläubigen Christen zum Kampf gegen den 
Umsturz und Unglauben. Dieser Ruf ist eines der unehrlichsten politischen 
Kampfesmittel der Gegenwart. Protestanten und Katholiken kommen im 
Zeichen des Kreuzes niemals zusammen. Ich erinnere nur an die Enzykliken 
und die Hirtenbriefe, an die Auslassungen des Evangelischen Bundes und 
des Oberkirchenrats. Das sind lauter grandiose Denkmäler einer grandiosen 
christlichen Intoleranz. Wir Sozialdemokraten wollen den Kampf gegen 
den Klerikalismus, wir wollen den Kampf gegen den Jefuitismus und 
wollen den Kampf gegen das Zentrum. Aber es muß ein offener und 
ehrlicher Kampf sein. Einem Gegner die Hände binden und ihn dann zum 
Zweikampf herausfordern, das ist kein ritterlicher Kampf. 
Abg. Dr. Junck (Nl.): Es besteht kein Zweifel, daß der Initiativ- 
antrag des Zentrums in diesem Hause in zweiter Lesung eine sehr erheb- 
liche Mehrheit finden wird. Diese Erscheinung ist für uns politisch wichtiger 
als die Jefuitenfrage an sich, also die stets vorhandene Möglichkeit, daß 
zwei Parteien, deren Empfindungsleben sich diametral gegenübersteht, jeder- 
zeit und mühelos eine Mehrheit bilden können, zwar nicht zu positivem 
Schaffen, aber zur Verneinung und zur Verhinderung, also zu einer nega- 
tiven Politik. Daß die Aufhebung eines seit 40 Jahren bestehenden Reichs- 
gesetzes eine negative Politik ist, wird wohl nicht bestritten werden können. 
Unter diesen Umständen, da die ganze politische Situation eine außer- 
ordentlich gespannte ist, müssen wir es bedauern, daß, wenigstens so viel 
ich sehe, weder der Herr Reichskanzler noch einer seiner Stellvertreter an 
unseren Beratungen sich beteiligen zu wollen scheint. Wenn das etwa in 
der zweiten Lesung nachgeholt werden sollte, so werde ich meine Bemer- 
kungen selbstverständlich reumütig zurücknehmen. Nicht, als ob wir zur 
Bildung unserer Meinung der Unterstützung durch die Reichsregierung be- 
dürften. Aber die Empfindung weiter Kreise des deutschen Volkes ist durch- 
aus berechtigt, daß der führende Staatsmann oder — vorsichtiger aus- 
gedrückt — der zur Führung berufene Staatsmann bei einer so wichtigen 
Entscheidung uns seine Stimme nicht versagen möchte. Die Aufhebung 
des Jesuitengesetzes ist für uns — das wird Ihnen nicht verwunderlich 
erscheinen — schlechthin unannehmbar. Wir lehnen von unserer Seite die 
Insinuation ab, als ob wir in der Bekämpfung der Jezfuiten zugleich einen 
Kampf gegen die katholische Religion suchten. Es ist uns nicht entgangen, 
obwohl die Jefuiten dieselben geblieben sind wie früher, obwohl für die 
Jesuiten nach wie vor der Satz gilt: sint. ut sunt. aut non sint, daß die 
Stellung unserer katholischen Volksgenossen zum Jejuitenorden jetzt eine 
andere geworden ist — das soll rückhaltlos zugestanden werden — als z. B. 
noch der Standpunkt Windthorsts im Jahre 1872, der mit dürren Worten 
sagte: was die Jefuiten sagen, geht uns nichts an —, eine andere, als 
aus früheren Aeußerungen katholischer Politiker und auch des Säkular- 
klerus hervorging. Ich erinnere nur an die Vorgänge in der Paulskirche. 
Den Grundsatz „dwide et impera"“ lehnen wir ab und überlassen die Kritik 
über die Moral der Jesuiten, über die ich sonst kein Wort sprechen will, 
und anderes vertrauensvoll den früheren Stimmen aus dem katholischen 
Lager selbst. Für die Gegenwart geben wir zu, daß solche Einwände gegen 
die Jefuiten jetzt verstummt sind oder — besser gesagt — zum Schweigen 
gebracht worden sind. Aber es bleibt in weiten Kreisen des deutschen Volks 
und namentlich des evangelischen Volks die Befürchtung bestehen, daß unter 
der Zurückberufung der Jesuiten der Friede unter den Konfessionen, den
	        
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