Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Erste Hälfte. (55a)

78 Das Deutstht Reiqh und seine einzelnen Glieder. (Februar 16. — 19.) 
das Vertrauen des Volkes zur Rechtspflege erschüttern könnte. Dann wird 
er auch mir den Ausspruch des Bürgermeisters Knöpffler in bezug auf den 
Zaberner Prozeß mißbilligen, daß die Angeklagten freigesprochen worden. 
seien, weil es hohe Herren gewesen seien. Der Vorwurf der Sozialdemokraten, 
daß wir eine Klassenjustiz hätten, ist nicht zum ersten Male erhoben worden. 
Unsere Pflicht ist es, solchen Vorwürfen nachzugehen. Das Vertrauen zu 
unserer Rechtspflege ist im Volke vorhanden; auch in sozialdemokratischen 
Kreisen. Natürlich kommen auch Mißgriffe, Fehlsprüche, Irrtümer vor. 
Selten aber sind in einem Kulturland Fehlsprüche so vereinzelt wie bei 
uns. Das sozialdemokratische Material beruht auf Zeitungsnachrichten, die 
man vorsichtig behandeln muß. Der Begriff der Rlassenjustiz wird auch 
subjektiv durch die Anschauungen bestimmt, von denen der einzelne sich 
leiten läßt. In unserem Richterstand herrscht uneingeschränkt das ehrliche 
Bestreben, frei von Vorurteilen das Rechte zu finden. Ich habe die Er- 
fahrung gemacht, daß Richter, die außerhalb ihrer amtlichen Tätigkeit 
manchen extremen politischen und sozialpolitischen Anschauungen huldigten, 
in dem Moment, wo sie die Robe anziehen, von einer unnahbaren Un- 
abhängigkeit sind. Das Streben mancher Richter nach Unparteilichkeit ist 
so groß, daß sie unter Umständen in den entgegengesetzten Fehler verfallen, 
daß sie die Arbeitnehmer gegen die Arbeitgeber bevorzugen. Ein ganzer 
Teil der Vorwürfe trifft auch nicht den Richter, sondern das Gesetz, das 
den Richter zwingt, so zu handeln, wie er es tatsächlich tut. Ein eklatantes 
Beispiel hat sich im Krupp-Prozeß abgespielt, nämlich die Nichtvereidigung 
der Zeugen Röttger und Genossen. Der Zeuge Röttger und mehrere andere 
Direktoren, völlig unbescholtene Leute, in hervorragend autoritären Stel- 
lungen werden nicht vereidigt. Das ist ein Beschluß von ungeheuerlicher 
Tragweite. Es ist ein schwerer Matel, den diese Leute tragen müssen, obne 
sich verteidigen zu können. Es ist dem Herrn Röttger nicht einmal das 
Wort gestattet worden, und auch das war nach dem Gesetz. Er stand viel 
schlechter als ein Angeklagter da. Er konnte nichts tun, um sich von dem 
Verdacht zu befreien. Die Nichtvereidigung wegen Teilnahmeverdacht war 
ein schwerer Schlag für ihn; aber er konnte nichts dagegen machen. Es 
war aber nach Lage der Sache eine sinnlose Barbarei, da alle Beteiligten 
erklärten, es komme auf die Vereidigung gar nicht an. Solches kann jedem 
passieren, und es kann das eine schwere, vielleicht eine nie wieder gut- 
zumachende Schädigung des Rufes und der Erxistenz einer Person bedeuten. 
Wie lange wollen wir mit solchen Zuständen, mit solchen Ueberbleibseln 
einer veralteten Rechtsanschauung noch wirtschaften? Wir müssen das Ver- 
fahren in Uebereinstimmung bringen mit den modernen Anforderungen der 
Zeit. Die Gesamtrevision zu fordern, nützt uns nichts; wir bekommen die 
Reform erst nach sieben oder acht Jahren, so hat uns der Staatssekretär 
erklärt. Deshalb sind wir mit unserem Antrag hervorgetreten; Not bricht 
Eisen, Not bricht auch die Bedenken gegen das Herausgreifen einzelner 
Materien aus der Revision. Wir haben nicht wahllos herausgegriffen; bei 
gutem Willen wird es gerade so gut gehen wie mit der vor zwei Jahren 
in kurzer Zeit durchgeführten und bereits segensreich wirkenden kleinen 
Strafgesetzbuchnovelle. Bei dem Verlangen nach reichsgesetzlicher Regelung 
der Materie der geisteskranken Verbrecher kommt auch noch die Erwägung 
in Frage, wie zu verfahren ist, wenn man zivilrechtlich Schutz schaffen will 
gegen den Einwand der Geisteskrankheit bei Verträgen, bei deren Abschluß 
eine Geisteskrankheit des Kontrahenten nicht vermutet werden konnte. Wir 
sehen ein maßloses Ueberwuchern des Privatklageverfahrens; bei dem kleinsten 
Schimpfworte läuft man zum Kadi, nur um dem Gegner Kosten zu machen: 
das ist ein grober Unfug, dem endlich gesteuert werden muß. Wir sehen
	        
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