Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Erste Hälfte. (55a)

236 Jas Veutice Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 5.—12.) 
aber würde sich nichts ändern. Insbesondere käme eine Ministerverantwort- 
lichkeit gegenüber den gesetzgebenden Körperschaften auch in den hier in 
Betracht kommenden Angelegenheiten nicht in Frage. Es ist psychologisch 
sehr verständlich, daß ein Minister seine Unabhängigkeit gerade in diesen 
Fragen besonders eifersüchtig hüten würde. Ich sehe deshalb nicht ein, 
wie durch eine Angliederung des Kabinetts an das Ministerium die Zwecke 
des Dr. Müller gefördert werden könnten. Er müßte denn beabsichtigen, 
was ah nicht einen Augenblick zu vermuten wage, einen verfassungswidrigen 
Einfluß auf den Minister dadurch auszuüben, daß er ihm in seinem Budget 
den Brotkorb höher hängt, wenn er nicht die Liste, die er dem König vor- 
trägt, entsprechend seinen Vorschlägen festsetzt. Daraus folgt, daß unbedingt 
Verfassungsänderungen nötig wären, wenn man in der von Dr. Müller- 
Meiningen als wünschenswert bezeichneten Richtung vorgehen wollte. Dabei 
würde aber eine Aenderung der Reichsverfassung, die hier in diesem Hause 
diskutiert werden kann, noch gar nichts nützen. Vielmehr wäre eine Aen- 
derung der preußischen Verfassung unentbehrliche Voraussetzung; denn es 
besteht nicht der geringste Zweifel, daß der Zustand, wie ich ihn schilderte, 
in Preußen bei Gründung des Reiches verfassungsrechtlich volle Gültig- 
keit hatte und durch die Reichsverfassung nicht geändert ist. Hiernach werden 
Sie die äußerlichen Schwierigkeiten ermessen können, die sich der Verwirk- 
lichung einer solchen Absicht entgegenstellen würden. Die innern sind aber 
noch viel größer. Sie sind darin begründet, daß diese Absicht den Reichs- 
interessen nicht förderlich sein wird, weil sie Preußen derjenigen Einrich- 
tungen berauben würde, denen wir die Schaffung und Erhaltung des Reiches 
verdanken. Allein dadurch, daß das preußische Heer durch die Verfassung 
dem Parteigetriebe und der Einwirkung ehrgeiziger Parteiführer entrückt 
wurde, daß es nur einem Willen, dem des Königs, untersteht, ist es das 
geworden, was es ist: der sichere Hort des Friedens nach außen und nach 
innen. Es wäre ein Fehler ohnegleichen, wenn man nach allem, was in 
der Welt vorgeht, daran denken wollte, an diesem Grundpfeiler unseres 
Heeres zu rütteln.“ 
Abg. Dr. Hägy (Els.) protestiert gegen die Behauptung, daß das 
elsässische Volk die deutsche Armee hasse. Behauptungen dieser Art seien 
Verleumdungen. — Nach der Vertagung der Debatte erklärt Abg. Dr. Müller- 
Meiningen in persönlicher Bemerkung: „Ich halte aufrecht, daß Musterungen 
nach konfessionellen Ansichten vorgenommen werden. Im Kreise Hammer- 
stein wurden am 25. März die Protestanten, aber nicht die Katholiken ge- 
mustert.“ Kriegsminister v. Falkenhayn: „Am 25. März war katholischer 
Feiertag.“ (Große Heiterkeit.) 
Die Debatte über die vom Kriegsminister berührten Punkte wird 
zum Teil unter großer Erregung des Hauses am 7. Mai weitergeführt. 
Am 8. Mai sprechen zu demselben Thema von der fortschrittlichen Volkspartei 
Abg. Gothein, von der deutsch-konservativen Partei Graf Westarp, von 
den Polen Abg. v. Trampczynski. Auf diese Reden antwortete der Kriegs- 
minister, Generalleutnant v. Falkenhayn: „Von dem zweiten Aufgebot 
der Redner sind so wichtige Punkte berührt worden, daß ich mit einigen 
Worten dazu Stellung nehmen möchte. Vorher möchte ich aber einige 
kleinere Angelegenheiten berühren, die hier eben besprochen worden sind. 
Der Abg. v. Schele bemerkte soeben, ich hätte den Wehrverein verteidigt. 
Ich habe nichts außerhalb der Heeresverwaltung Liegendes verteidigt, 
sondern ich habe die Heeresverwaltung gegen den Versuch verteidigt, sie 
zum Einwirken auf den Wehrverein zu gebrauchen. Der Abg. v. Trampczynski 
sprach dann hier von polnischen Soldaten. Nach meiner Ansicht gibt es 
keine polnischen Soldaten, sondern nur deutsche Soldaten, und wenn der
	        
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