Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Erste Hälfte. (55a)

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Auge hat, der kann doch die Erreichung seiner Ziele nicht damit anbahnen, 
daß er das Vaterland in seiner Wehrhaftigkeit beeinträchtigt. Es geschieht 
lediglich aus Parteirücksichten. Um den Einfluß der Partei zu heben, ver- 
sucht man die Stützen des Staates zu erschüttern, legt man die Art an die 
Wurzel der Macht des Reiches. Ein solches Beginnen muß ich von meinem 
Standpunkt aus verderblich nennen. Und angesichts dessen, daß bei dem 
einen Nachbar gerade jetzt die Dienstzeit sehr erheblich verlängert und die 
Kaders der ersten Linie sehr erheblich weit über das Maß dessen, was wir 
getan haben, hinaus verstärkt worden sind, muß ich ein solches Ansinnen auch 
geradezu unbegreiflich nennen (Widerspruch bei den Sd.). Ja, Theoretiker 
und Fanatiker vertreten ja manchmal unbegreifliche Dinge. Aber unser 
gesundes Volk wird sich auf die Dauer nicht in dem Banne dieser An- 
schauung fangen lassen. Ich bin ganz fest überzeugt, daß schon der Tag 
anzubrechen beginnt, wo man über diesen Punkt jedenfalls im Volke fühlen 
wird wie ich und solche Ansichten für Phantastereien und Hirngespinste höält. 
Der Abg. Gothein ist dann eingegangen auf die Frage der Beförderung 
ifraelitischer Mitbürger zu Offizieren des Beurlaubtenstandes. Er hat bei 
dieser Gelegenheit sich auf eine Rede des Herrn v. Einem bezogen und es 
auch aus den Worten des Herrn v. Einem geglaubt, beweisen zu können, 
daß eine Antwort, die der Bundesrat auf eine Resolution des hohen Hauses 
erteilt hat, sich mit der Wirklichkeit nicht deckt. Er hat nur leider vergessen, 
einen Satz weiter aus der Rede des Generals v. Einem vorzulesen, wo 
nämlich drin steht, daß der Zustand, daß schon seit Jahren, seit langen 
Jahren kein israelitischer Soldat, wenn er sonst tüchtig ist, zum Reserve- 
offizier befördert ist, gegen die Allerhöchsten Bestimmungen verstößt, und 
das ist doch sehr wichtig. Daß der gegenwärtige Zustand (Zurufe bei den Sd.) 
— ich bitte, mich ausreden zu lassen — von den ifraeclitischen Mitbürgern 
beklagt wird, wird jeder begreifen, und ich beklage es auch. Indessen, es 
handelt sich um einen tatsächlichen Zustand: daß er verfassungswidrig sei 
an sich, muß ich natürlich zugeben, daß er aber durch irgendwelche ver- 
fassungswidrigen Maßnahmen oder Einrichtungen veranlaßt ist und aufrecht 
erhalten wird, bestreite ich. Und ich kann hinzufügen, daß, nachdem ich mich 
informiert habe, nicht der leiseste Zweifel daran bestehen kann, daß ein 
Israelit, sobald er die für alle Reserveoffiziersaspiranten ganz gleichmäßig 
vorgeschriebenen Bedingungen erfüllt, anstandslos zum Offizier befördert 
werden würde. Es ist dann der Abg. Graf Westarp auch auf die Iugend- 
bewegung eingegangen, die bei der ersten Lesung eine größere Rolle ge- 
spielt hat. Wenn ich mich recht erinnere, hat damals gegen die Iugend- 
bewegung derselbe Herr von jener Seite (links) gesprochen, der der Ansicht 
Ausdruck gab, ich sei hundert Jahre zu spät geboren worden oder es wäre 
besser gewesen, ich wäre hundert Jahre früher geboren worden. Ich ver- 
stehe den Wunsch. Ob diese Behauptung des betreffenden Herrn, der bei- 
läufig zwanzig Jahre jünger ist als ich, zutrifft oder nicht, kann sich ja 
erst in der Zukunft erweisen, und er hat mehr Aussicht infolge dieses Alters- 
unterschiedes, es zu erleben, als ich; eins aber kann ich ihm heute schon 
versichern: Ich würde gern hundert Jahre früher geboren sein; nach ver- 
schiedenen Gesichtspunkten. Es wäre mir wirklich lieber gewesen, zu den 
Füßen Fichtes zu sitzen und dessen von glühender Vaterlandsliebe durch- 
tränkten Reden lauschen zu können, als jetnzt Reden anhören zu müssen, 
denen nicht nur diese Eigenschaft fehlt, um schmackhaft zu sein, und ich 
wäre wirklich lieber vor hundert Jahren mit der deutschen Jugend, mit 
Friesen und Körner hinausgezogen zum offenen Kampf gegen den Dämon, 
der damals das Vaterland zu erdrosseln suchte, als jetzt hier Redeübungen 
halten zu müssen, die keinem unangenehmer sein können als mir selbst.
	        
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