Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Erste Hälfte. (55a)

Daes Benfssche Reich und seine einzelnen Glieder. (August 3. 4.) 381 
teilung machen und sie um Erteilung einer unzweideutigen Antwort binnen 
zwölf Stunden, also bis morgen früh 8 Uhr, ersuchen. Von der Aufnahme, 
welche Ihre Eröffnungen dort finden werden, und der definitiven Antwort 
der Königlich belgischen Regierung wollen Euer Hochwohlgeboren mir 
umgehend telegraphische Meldung zugehen lassen. Jagow.“" 
Die belgische Regierung lehnte die deutschen Forderungen ab und 
rief den Schutz der englischen Regierung an. 
3. August. Die italienische Regierung gibt die Erklärung ab, 
daß sie in dem beginnenden Kriege „gemäß dem Geiste und dem 
Wortlaute des Dreibundvertrags“ neutral bleiben werde. 
4. August. (Reichstag.) Eröffnung des Reichstags im Weißen 
Saal des Königlichen Schlosses. 
Der Kaiser verliest folgende Thronrede: 
Geehrte Herren! 
In schicksalsschwerer Stunde habe Ich die gewählten Vertreter des 
deutschen Volkes um Mich versammelt. Fast ein halbes Jahrhundert lang 
konnten wir auf dem Weg des Friedens verharren. Versuche, Deutschland 
kriegerische Neigungen anzudichten und seine Stellung in der Welt ein- 
zuengen, haben unseres Volkes Geduld oft auf harte Proben gestellt. In 
unbeirrbarer Redlichkeit hat Meine Regierung auch unter herausfordernden 
Umständen die Entwicklung aller sittlichen, geistigen und wirtschaftlichen 
Kräfte als höchstes Ziel verfolgt. Die Welt ist Zeuge gewesen, wie un- 
ermüdlich wir in dem Drang und den Wirren der letzten Jahre in erster 
Reihe standen, um den Voltern Europas einen Krieg zwischen Großmächten. 
zu ersparen. Die schwersten Gefahren, die durch die Ereignisse am Balkan 
heraufbeschworen waren, schienen überwunden. Da tat sich mit der 
Ermordung Meines Freundes, des Erzherzogs Franz Ferdinand, ein Ab- 
grund auf. Mein hoher Verbündeter, der Kaiser und König Franz Joseph, 
war gezwungen, zu den Waffen zu greifen, um die Sicherheit seines Reiches 
gegen gefährliche Umtriebe aus einem Nachbarstaat zu verteidigen. Bei der 
Verfolgung ihrer berechtigten Interessen ist der verbündeten Monarchie 
das Russische Reich in den Weg getreten. An die Seite Oesterreich-Ungarns 
ruft uns nicht nur unsere Bündnispflicht. Uns fällt zugleich die gewaltige 
Aufgabe zu, mit der alten Kulturgemeinschaft der beiden Reiche unsere 
eigene Stellung gegen den Ansturm feindlicher Kräfte zu schirmen. Mit 
schwerem Herzen habe ich Meine Armee gegen einen Nachbar mobilisieren 
müssen, mit dem sie auf so vielen Schlachtfeldern gemeinsam gefochten hat. Mit 
aufrichtigem Leid sah Ich eine von Deutschland treu bewahrte Freundschaft 
zerbrechen. Die Kaiserlich Russische Regierung hat sich, dem Drängen eines 
unersättlichen Nationalismus nachgebend, für einen Staat eingesetzt, der 
durch Begünstigung verbrecherischer Anschläge das Unheil dieses Krieges 
veranlaßte. Daß auch Frankreich sich auf die Seite unserer Gegner gestellt 
hat, konnte uns nicht überraschen. Zu oft sind unsere Bemühungen, mit 
der Französischen Republik zu freundlicheren Beziehungen zu gelangen, auf 
alte Hoffnungen und alten Groll gestoßen. Geehrte Herren! Was mensch- 
liche Einsicht und Kraft vermag, um ein Volk für die letzten Entscheidungen 
zu wappnen, das ist mit Ihrer patriotischen Hilfe geschehen. Die Feind- 
seligkeit, die im Osten und im Westen seit langer Zeit um sich gegriffen 
hat, ist nun zu hellen Flammen aufsgelodert. Die gegenwärtige Lage ging 
nicht aus vorübergehenden Interessenkonflikten oder diplomatischen Kon- 
stellationen hervor, sie ist das Ergebnis eines seit langen Jahren tätigen
	        
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