Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Erste Hälfte. (55a)

445g dDas Bentsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 21.) 
tion sich entwickelte, mußte ein neuer Boden gesucht werden, auf dem 
eine Vermittlungsaktion der Mächte sich anbahnen konnte. Es war Deutich- 
land, dem das Verdienst gebührt, diesen Boden zuerst betreten zu haben. 
Staatssekretär v. Jagow wies in seinem Gespräch mit dem britischen Bot- 
schafter am 27. Juli darauf hin, daß er in dem Wunsche Rußlands, mit 
Oesterreich--Ungarn direkt zu verhandeln, eine Entspannung der Lage und 
die beste Aussicht auf eine friedliche Lösung erblicke. Diesen Wunsch. 
durch den die englische Konferenzidee auch nach russischer Meinung vor- 
läusig ausgeschaltet war, hat Deutschland von dem Tage, wo er geäußert 
wurde, mit aller Energie, die ihm zu Gebote stand, in Wien unterstüßt. 
Kein Staat kann ehrlicher und energischer danach gestrebt haben, den Frieden 
der Welt zu erhalten als Deutschland. England selbst verzichtete nunmehr 
darauf, seine Konferenzidee weiter zu verfolgen, und unterstützte auch seiner- 
seits den Gedanken der direkten Verhandlungen zwischen Wien 
und Petersburg. (Blaubuch 67.) Diese begegneten Schwierigkeiten, und 
zwar Schwierigkeiten, die nicht von Deutschland und Oesterreich-Ungarn, 
sondern von den Ententemächten herbeigeführt wurden. Sollte Deutschlands 
Bemühen gelingen, so bedurfte es des guten Willens der nicht unmittelbar 
engagierten Mächte, es bedurfte aber auch des Stillhaltens der Haupt- 
beteiligten, denn wenn eine der beiden Mächte, zwischen denen vermittelt 
werden sollte, die im Gange befindliche Aktion durch militärische Maß- 
nahmen störte. so war von vornherein klar, daß diese Aktion nie zum 
Ziele gelangen konnte. Wie stand es nun mit dem guten Willen der Mächte? 
Wie Frankreich sich verhielt, ergibt sich mit Deutlichkeit aus dem 
französischen Gelbbuche. Es traute den deutschen Versicherungen nicht. 
Alle Schritte des deutschen Botschafters Frhrn. v. Schön wurden mit Miß- 
trauen aufgenommen, sein Wunsch auf mäßigende Einwirkung Frankreichs 
in Petersburg wurde nicht beachtet, denn man glaubte annehmen zu sollen, 
daß die Schritte des Herrn v. Schön nur dazu bestimmt waren, „à com- 
Dromettre la France au regard de la Russie“. Aus dem französischen 
Gelbbuch ergibt sich, daß Frankreich keinen einzigen positiven Schritt im 
Interesse des Friedens getan hat. 
Was für eine Haltung hat England angenommen? In den diplo- 
matischen Gesprächen gab es sich den Anschein, bis zur letzten Stunde zu 
vermitteln, aber seine äußeren Handlungen hatten es auf eine Demütigung 
der beiden Dreibundmächte abgesehen. England war die erste Großmacht, 
die militärische Maßnahmen im großen Stile anordnete und dadurch eine 
Stimmung insbesondere bei Rußland und Frankreich schuf, die allen Ver- 
mittlungsaktionen im höchsten Grade abträglich war. Es ergibt sich aus 
dem Berichte des französischen Geschäftsträgers in London vom 27. Juli 
(Gelbbuch Nr. 66), daß schon am 21. Juli der Befehlshaber der englischen 
Flolte diskret seine Maßnahmen für die Zusammenziehung der Flotte bei 
Portland getrossen hatte. Großbritannien hat also früher mobilisiert als 
selbst Serbien. Großbritannien hat sich ferner ebenso wie Frankreich ge- 
weigert, in Petersburg maäßigend und zügelnd einzuwirken. Auf die 
Meldungen des englischen Botschafters in Petersburg, aus denen ganz klar 
hervorging, daß nur eine Mahnung an Rußland, mit der Mobilisation 
einzuhalten, die Situation retten konnte, hat Sir Edward Grey nichts 
getan, sondern die Dinge gehen lassen, wie sie gingen. Zu gleicher Zeit 
hat er aber geglaubt, daß es nützlich sein würde, Deutschland und Oester 
reich-Ungarn, wenn auch in nicht ganz klarer Weise, doch deutlich genug 
darauf hinzuweisen, daß sich auch England an einem europäischen Kriege 
beteiligten könnte. Zu derselben Zeit also, wo England sich nach dem 
Fallenlassen seiner Konferenzidee den Anschein gab, zu wünschen, daß sich
	        
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