Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Erste Hälfte. (55a)

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unerträgliche Zurücksetzung auf die Dauer nicht gefallen lassen. Die Klärung, 
die in der braunschweigischen Frage erfolgt ist, betrachten auch wir als eine 
erfreuliche Erledigung der herrschenden Situation, und schon die freudige 
Aufnahme, die der junge Herzog und die Kaisertochter in Braunschweig 
gefunden haben, geben von der Stimmung der dortigen Bevölkerung ein 
anschauliches Bild. Das Klarste, was in dieser ganzen Frage geschehen 
ist, ist im Deutschen Reichstag geschehen, als der braunschweigische Re- 
gierungsvertreter darlegte, daß das braunschweigische Volk einen Anspruch 
darauf habe, daß diese Angelegenheit endlich zu einer befriedigenden Lösung 
geführt würde. Der Fall Zabern ist nach meiner Meinung in einer Rich- 
tung höchst erfreulich, sowohl in seiner Ursache wie auch in seinen Begleit- 
erscheinungen und in seinen Wirkungen.“ Redner verteidigt das Verhalten 
der Reichstagsfraktion und kritisiert den Standpunkt des Reichskanzlers. 
Er bemerkt: „Uns hat nichts ferner gelegen, als irgend eine antimilitaristische 
Stimmung auszudrücken, wir denken nicht daran, ein Parlamentsheer zu 
schaffen. Das haben wir bei mehr als einer Gelegenheit mit voller Ueber- 
zeugung zum Ausdruck gebracht. Wir werden das Offizierkorps und die 
Armee in vollem Umfange zu schützen wissen, sobald sie angegriffen werden! 
Es ist bedauerlich, daß solche unerhörte Entgleisungen in Zabern vor- 
gekommen sind. Aber für solche Ausschreitungen die ganze Bevölkerung 
Zaberns oder Lothringens verantwortlich zu machen, das geht nicht. Ich 
bin auch der Ueberzeugung, daß man dort in weiten Kreisen diese Aus- 
schreitungen in höchstem Maße bedauert. Wir sprechen die Hoffnung aus, 
daß der Fall Zabern, der Gott sei Dank in vierzig Jahren der einzige 
seiner Art ist, für alle Zeit allein steht. Es ist aber für den Fall der 
Wiederholung in irgend einem anderen Orte Preußens erforderlich, in 
stritigen Fragen möglichst bald eine Klärung herbeizuführen. Ueber zwei 
Fragen ist die nötige Klärung zu geben, zunächst über die Frage, welche 
Rechte der Offizier und der Soldat hat, wenn er tätlich angegriffen und 
beleidigt wird. Die zweite Frage ist, unter welchen Voraussetzungen und 
Bedingungen die Militärbehörde berechtigt ist, die Polizeigewalt zu über- 
nehmen. Wenn die Kabinettsorder von 1820 heute noch in Preußen Gel- 
tung hat, so ist es selbstverständlich, daß ihre Rechtsgültigkeit auch für Elsaß- 
Lothringen bejaht wird. Nun kann aber auch der Fall eintreten, daß 
baverische Kontingente in Elsaß-Lothringen garnisoniert sind, und Bayern 
besitzt nicht eine Bestimmung, wie sie in der preußischen Kabinettsorder 
ausgedrückt ist. Es würden sich also daraus große Unzuträglichkeiten in 
den Reichslanden ergeben. Nun ist in diesem Hause viel über das Ver- 
hältnis Preußens zum Reiche gesprochen worden. Ich kann mich in der 
Stellungnahme meiner Fraktion zu dieser aktuellen Frage auf eine pro- 
ammatiiche Erklärung meiner Partei berufen. Sie lautet: Die Zentrums- 
aktion des Deutschen Reiches hat bei ihrer Gründung im März 1871 an 
die Spitze ihres Programms folgenden Grundsatz für ihre Tätigkeit gestellt: 
Der Grundcharakter des Reiches als eines Bundesstaates soll gewahrt werden, 
demgemäß den Bestrebungen, welche auf eine Aenderung des föderativen 
Charakters der Reichsverfassung abzielen, entgegengewirkt und von der 
Selbstbestimmung und Selbständigkeit der einzelnen Staaten in allen inneren 
Angelegenheiten nicht mehr Gebrauch gemacht werden, als die Interessen 
des Ganzen unabweislich erfordern. Wie haben sich doch die Zeiten ge- 
#ändert! Damals in den siebziger Jahren des verflossenen Jahrhunderts 
wurde vielfach die Befürchtung laut, daß die unitarischen Bestrebungen 
dazu führen würden, Preußen nicht diejenige Stellung im Reiche zu ver- 
schaffen, die ihm nach seiner ganzen historischen Entwicklung gebührt. Heute 
nehmen die Befürchtungen die entgegengesetzte Richtung an, man ist besorgt,
	        
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