Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Erste Hälfte. (55a)

48 Nas Veutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 20.) 
lesen kann. Man hat gemeint, daß diese Steigerung der Preise eine Folge 
unserer Zollpolitik sei. Ich habe schon bei Gelegenheit der Fleischteuerungs- 
debatte darauf hingewiesen, daß die Preise für die notwendigen Lebens- 
bedürfnisse in der ganzen Welt gestiegen sind, daß es sich um eine inter- 
nationale Erscheinung handelt. Dies wird bestätigt durch eine interessante 
englische Schrift, die das Ergebnis einer Enquete mitteilt über die Kosten 
der Lebenshaltung der arbeitenden Klassen, die auf Veranlassung des eng- 
lischen Parlaments veranstaltet worden ist. Es wird in dieser Schrift aus- 
drücklich darauf hingewiesen, daß der Einfluß des Ausstandes der Kohlen- 
arbeiter auf die Preise sehr viel geringer gewesen sei als die große Trocken- 
heit. Also auch von englischer Seite die Bestätigung der Auffassung, die 
ich hier vertreten habe, daß die Dürre eines Jahres einen viel größeren 
Einfluß auf die Preise ausübe als die Wirtschaftspolitik der ganzen Welt. 
Dieser englischen Schrift liegt ein Verzeichnis der Preisbewegung in den 
außerenglischen Ländern bei, mit der ausdrücklichen Bemerkung, daß diese 
Zahlen in sich nicht vergleichbar seien, weil sie auf verschiedenen Grund- 
lagen hergestellt sind. Wenn man nun vielleicht einwendet, daß auch nach 
englischen Feststellungen die Steigerung der Preise in Deutschland stärker 
sei als in England, so möchte ich darauf hinweisen, daß die deutschen 
Zahlen mit den englischen nicht vergleichbar sind, und daß die Steigerung 
der Preise bei uns noch nicht als Folge unserer ganzen Schutzzollpolitik 
anzusehen ist. Die englischen Arbeiter sind der Lebenshaltung unserer Ar- 
beiter um Menschenalter voraus. Wir haben seit zwanzig Jahren erst 
angefangen, alle Stände mit einer gewissen rapiden Expansion auf eine 
Höhe zu treiben, wie sie in England seit langem besteht. Nun hat man 
die Frage aufgeworfen, inwieweit die Steigerung der Preise unserer Lebens- 
bedürfnisse mit unserer Agrarpolitik zusammenhänge. Man hat die Mei- 
nung ausgesprochen, daß der vorübergehende Rückgang unserer Fleisch- 
produktion durch unsere Agrarpolitik verursacht sei, daß diese Politik zu 
einer Vernachlässigung der Weidekultur und zu einem übertriebenen Rörner- 
bau geführt habe. Die Statistik zeigt, daß diese Voraussetzung eine irrige 
ist. Dr. Eßle stellt in seinem Buch auf Grund der Anbaustatistik nach der 
Zählung, die im Jahre 1907 stattgesunden hat, fest, daß in dem Zeitraum 
von 1878 bis 1900 die Getreideanbaufläche um 4,6 Prozent gewachsen ist. 
Bei diesem Prozentverhältnis ist doch eine wesentliche Verschiebung der 
Grundlagen für die Viehaufzucht unmöglich. Es ist ferner festgestellt, daß 
in den letzten dreißig Jahren eine Zunahme des Kartoffelbaues von 15 Prozent 
stattgesunden hat. Die Verschiebung zugunsten des Roggens ist nicht darauf 
zurückzuführen, daß man die anderen Betriebe vernachlässigt hat, sondern 
diese Verschiebung ist zurückzuführen auf eine anderweitige Benutzung des 
vorhandenen Areals, auf die Benutzung von Oedländereien usw. Das für 
Futtermittel benutzte Areal ist erheblich größer geworden als das für Ge- 
treide. Für Futterpflanzen ergibt sich ein Plus von 209000 Hektar. Daraus 
ergibt sich klar, daß das Mehr an Körnern nicht zurückzuführen ist auf die 
Vernachlässigung der Futtermittel, der Wiesenflächen, sondern lediglich darauf, 
daß man mit einer irrationellen Bewirtschaftung gebrochen hat. Man hat 
durch Kali und andere Düngemittel es ermöglicht, auch auf leichten Böden 
Körner zu bauen. Man hat mit einer gewissen Emphase hier in diesem 
Hause und draußen verkündet, daß der Rückgang unserer Viehproduktion 
eine Folge unserer verfehlten Wirtschaftspolitik sei. Nun möchte ich darauf 
hinweisen, daß das günstige Ergebnis von 1907 unmittelbar nach einer 
ungewöhnlich reichen Ernte eintrat. Im Jahre 1912 dagegen hatten wir 
mit einer Mißernte zu tun, wie wir sie seit Jahrzehnten nicht erlebt hatten. 
Und dazu noch mit der verheerenden Epidemie der Maul- und Klauen-
	        
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