Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Erste Hälfte. (55a)

54 Das Veesche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 28.) 
verständnis auch nicht eingeholt worden. Nur wurde ihm nachträglich von 
der Sache Kenntnis gegeben, was er mit Stillschweigen aufnahm. Die in 
Essen zur Verlesung gebrachte Erläuterung der Enzyklika ist also kein Be- 
schluß des Episkopats, sondern eine Ausarbeitung des Herrn Bischofs von 
Paderborn, der ich, den drängenden Umständen nachgebend, zustimme. 
In Essen hätte man es danach in der Hand gehabt, den gewerk- 
schaftlichen Standpunkt mit weiser Zurückhaltung und kluger Schonung des 
kirchlichen Empfindens zur Geltung zu bringen, bei der überaus milden 
Erläuterung des Herrn Bischofs von Paderborn, und so die Hoffnungen 
des Episkopats zu rechtfertigen. Statt dessen erging man sich in schroßen 
und herausfordernden Redewendungen, die die wohlwollenden Rücksichten 
des Episkopats völlig mißachteten und die angewendete Milde als nutzlos 
erwiesen, weshalb letztere auch an einer anderen kirchlichen Stelle nicht 
gebilligt wurde. 
Aus diesen Vorgängen in Essen erkannte ich selbst, daß es Selbst- 
täuschung war, eine friedliche und versöhnliche Wirkung der Enzyklika zu 
erhoffen, und schrieb daher an den hochwürdigen Herrn Bischof von Pader- 
born, daß ich diese Vorgänge tief bedauerte und daher meine Zustimmung 
zu seinen Erläuterungen damit zurücknähme. Mein Schreiben (vom 1. Dezember 
1912) lautete wörtlich: 
Ich bedauere, mich an den Maßnahmen zur Beruhigung der christ- 
lichen Gewerkschaften beteiligt zu haben, und will die Interpretationen (der 
fünf Punkte) nicht weiter vertreten, da solche nicht allein wirkungslos, sondern 
verwirrend sind.“ 
So gut diese Erläuterungen gemeint waren und man sie an sich 
vielleicht noch nicht beanstanden kann, wenn man die Eile der Entschließung 
berücksichtigt und ihren Zweck nicht aus dem Auge läßt, so ist doch manches 
dagegen einzuwenden. Vor allem waren sie nicht nötig, da die Bestim- 
mungen der Enzyklika deutlich und klar genug sind. Sie waren unnütz, 
da die Führer der christlichen Gewerkschaften sie nur zu einer schroffen 
Ablehnung benutzten. Endlich aber muß besonders hervorgehoben werden, 
daß es nicht Sache der Bischöfe ist, päpstliche Erlasse zu erläutern und 
auszulegen, sondern daß dieses Recht allein dem Heiligen Stuhl zusteht. 
In diesem Urteile über die Paderborner Erläuterungen, das ich seit der 
Essener Versammlung stets festgehalten habe, hat mich leider auch der Ver- 
lauf des eben beendeten Prozesses der christlichen Gewerkschaften gegen die 
sozialdemokratischen Redakteure noch bestärkt, und ich kann hinzufügen, daß 
auch an anderen Stellen die bei dieser Gelegenheit ausgesprochenen Grund- 
sätze und Ansichten ein großes Aufsehen erregt haben."“ 
28. Januar. (Deutscher Reichstag.) Etat des Reichs- 
amts des Innern. Staatssekretär Dr. Delbrück erwidert auf die 
Erörterungen anläßlich seiner Rede vom 20. d. M. 
„Was ich in der vergangenen Woche ausgeführt habe über die 
Entwicklung unserer Sozialpolitik, hat, abgesehen von zwei Rednern von 
der linken Seite des Hauses, im großen und ganzen Zustimmung ge- 
funden. Herr Gothein hat zwar die damals von mir gegebenen Zahlen 
bemängelt. Aber mein Kommissar hat bereits die erforderlichen Er- 
örterungen dazu gegeben, so daß ich nicht mehr darauf zurückzukommen 
brauche. Herr Gothein hat sich dann mit meinen Ausführungen über die 
Sparkassen in einem offenen Briefe an mich im „Berliner Tageblatt" 
beschäftigt. Er wirft mir darin ein arges Versehen vor. Ich gebe zu. 
daß meine Ausführungen vielleicht zu einer mißverständlichen Auffassung 
führen konnten. Aber es mußte doch klar zutage treten, daß ich mit den
	        
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