Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

Greßbritannien. (August 29. 30.) 567 
Vorkehrungen und Dispositionen für unser Expeditionskorps zu treffen. 
Vor ungefähr einer Woche (d. h. also ca. am 3. oder 4. August) befand sich 
ein großer Teil dieses Korps bereits in Dover. Die alte Stadt wimmelte 
abends von Soldaten: am nächsten Morgen waren sie verschwunden; sie 
wurden in der Nacht nach Folkestone verladen, wo sie auf Transportschiffe 
gebracht und verschifft wurden. Zur gleichen Zeit fuhr eine Flotte von 
großen Dampfern, die bis zum Rande mit Soldaten in Kakhiuniform be- 
laden waren, aus dem Hafen von Southampton aus. Ich hörte gestern 
aus guter Quelle, daß am vergangenen Dienstag (d. h. am 4. August) be- 
reits 100000 britische Soldaten in Belgien standen. Es wird jetzt allge- 
mein hier als feststehende Tatsache angenommen, daß die Mobilisation der 
britischen Flotte bereits vor Wochen im geheimen unter dem Vorwande 
einer Flottenparade vor dem König ins Werk gesetzt worden ist. Auch die 
Behauptung, daß Winston Churchill auf Kitcheners Anstiften diese Mobi- 
lisation befahl, ohne seine Ministerkollegen zu befragen, wird jetzt hier all- 
gemein für wahr gehalten. Eins ist klar: Die britische Flotte war bereits 
aktionsfertig, sie wurde sofort nach den strategischen Plänen der Admiralität 
disponiert, noch ehe Mr. Asquith seinem Ultimatum an Deutschland die 
Kriegserklärung folgen ließ. 
29. August. Premierminister Asquith richtet an die Lord- 
Mayors von London, Dublin und Cardiff und den Lord-Provost 
von Edinburgh folgendes Schreiben: 
Die Zeit ist gekommen, in diesem größten Konflikt, in dem unser 
Volk jemals gestanden hat, der öffentlichen Meinung und der öffentlichen 
Betätigung eine Organisation zu geben. Ich schlage vor, daß in jedem 
Distrikt des Vereinigten Königreichs unverzüglich Versammlungen abgehalten 
werden, in denen jedermann klar gemacht wird, daß von ihm verlangt 
wird, daß er seine Pflicht tue. Ich selbst bin bereit, soweit es meine Amts- 
obliegenheiten erlauben, nach besten Kräften mitzuhelfen, und ich werde 
gern an meine Mitbürger Ansprachen richten. Ich weiß, daß ich in jedem 
politisch organisierten Distrikt auf die leitenden Persönlichkeiten zählen kann. 
30. August. Der Arbeiterführer Ramsay Macdonald greift im 
„Labour Leader“ Greys Politik an. Aufruf der Unabhängigen Arbeiter- 
partei. 
Macdonald schreibt u. a.: Das englische Weißbuch beginnt mit einer 
Unterredung zwischen Sir Edward Grey und dem deutschen Botschafter 
am 20. Juli über die Note Oesterreichs betreffend die Züchtigung Serbiens. 
Das britische Ultimatum an Deutschland vom 4. August bildet den Ab- 
schluß. Aus diesem Weißbuche geht mit ziemlicher Sicherheit hervor: 
1. Sir Edward Grey hat bis zuletzt versucht, einen europäischen Krieg 
zu vermeiden. 2. Deutschland hat so gut wie gar nichts getan, um den 
Frieden zu erhalten. Es ist jedoch nicht erwiesen, daß es Oesterreich auf- 
gemuntert habe, gegen Serbien mit bewaffneter Hand aufzutreten. 3. Die 
russische Mobilmachung hat Deutschland zum Krieg gezwungen. 4. Rußland 
und Frankreich haben von Anfang an versucht, durch Druck sowohl wie 
durch List England ein Versprechen der Hilfeleistung für den Kriegsfall 
abzuringen. 5. Wenngleich Sir Edward Grey ihnen keine feste Zusage ge- 
geben hat, hat er doch dem deutschen Botschafter in London zu verstehen 
gegeben, daß wir wahrscheinlich nicht außerhalb des Konflikts bleiben 
könnten. 6. Während der Unterhandlungen hat Deutschland einen Versuch 
gemacht, unsern Wünschen bis zu einem gewissen Maße entgegenzukommen
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.