Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreiunddreißigster Jahrgang. 1917. Erster Teil. (58a)

202 Beutsches Reich. (Februar 27.—März 2.) 
überschuß bewundern, den jene Herren in dieser Zeit der Lebensmittel- 
knappheit aufbringen. Haben sie doch zu alledem noch Mut und Lust, dem 
Reichskanzler, wie es in einem ihrer Flugblätter heißt, an die Kehle zu 
springen. Man hätte wirklich denken können, er hätte sich durch die neuen 
Entschlüsse der Reichsleitung eine bessere Behandlung von jener Seite ver- 
dient. Die Frivolität, mit der man sich zu dem Zwecke bekannt hat, Ver- 
hetzung zwischen militärischen und Zivilbehörden zu tragen, übersteigt wirklich 
alles bisher Dagewesene. Ein solches Treiben inmitten des Krieges grenzt 
schon an Landesverrat. (Lebhafte Zustimmung links.) Wir sind Gegner des 
Polizeiknüttels im politischen Kampf. Wenn er aber angewendet wird, dann 
bitte gleichmäßig. Was Liebknecht recht ist, müßte Kirdorf billig sein. Wenn 
wir ringsum von Feinden umgeben sind, und wenn selbst in den ent- 
ferntesten Ländern ein geradezu unbegreiflicher Haß gegen uns aufschäumt, 
so danken wir das nicht zuletzt jenem Treiben, das man draußen mit 
Unrecht für die Stimme unseres nüchternen Volkes hält. Man weiß dort 
nicht, daß unser Volk in seiner übergroßen Mehrheit für solche Aeußerungen 
kein anderes Gefühl hat als das des Abscheus und der Entrüstung. Die 
Annahme der neuen Kredite belastet das Reich abermals mit Hunderten 
von Millionen an Zinsen. Im vorigen Jahre deckte man sie durch Steuern 
auf den Verbrauch und Verkehr, diesmal tut man es durch Steuern auf 
den Verkehr und Verbrauch, und ich bin neugierig, was im nächsten Jahr 
beschlossen werden soll. Wir haben für diese Art der Finanzkunst keine Be- 
wunderung. Ich warne Sie, die Kosten der Lebenshaltung in einem Maße 
zu steigern, dem die Steigerung des Einkommens nicht folgen kann. Die 
Last des Volkes ist riesengroß, aber noch größer ist der Unwille und Zorn 
über die unbegreifliche Rücksichtnahme gegenüber der wildesten Habgier und 
dem schamlosesten Wucher. Landesverrat treiben die, die das Volk jetzt 
auswuchern. An den Pranger mit den Ehrlosen, die aus der Not des 
Volkes Nutzen ziehen. Natürlich mußten infolge des Absperrkrieges die Zu- 
fuhren sich verringern; dazu kommt der Arbeitermangel, der eine intensive 
Bearbeitung des Bodens unmöglich macht, ferner Transportschwierigkeiten. 
Alle diese Elemente mußten verteuernd auf die Lebensmittel einwirken. 
Aber was wir vielfach erleben, ist eine planmäßig betriebene Ausplünderung 
des Volkes. Hier fordere ich den Reichskanzler dringend auf, so schnell als 
es irgend geht, zuzugreifen. Gesteigert ist die Not durch das gewissenlose 
Verfüttern von Brotfrucht an das Vieh. Unser Viehstand ist zu groß, die 
Viehpreise müssen herabgesetzt und dadurch Abschlachtungen erzwungen 
werden. Statt dessen verlangen die „ewig Notleidenden“ Heraussetzung der 
Preise für Brotfrucht, Milch und Zucker. Ich warne Sie, mit dem Feuer 
zu spielen. In diesem Zusammenhange erinnere ich auch an die unver- 
antwortlichen Malzschiebungen aus Bayern nach Norddeutschland, wobei 
auch das bayerische Verkehrsministerium und das stellvertretende Kommando 
des ersten bayerischen Armeekorps eine sehr merkwürdige Rolle gespielt haben. 
Wir stehen jetzt vor den kritischen Monaten. Sichern Sie, was noch auf 
dem Lande an Nahrungsmitteln vorhanden ist, ür das ganze Volk. Wenn. 
es an Transportmitteln fehlt, so lassen Sie den Personenverkehr eine Zeitlang 
gänzlich sperren. Nur einen kleinen D. Zug möchte ich allerdings bereit stehen 
lassen, denjenigen, der uns den preußischen Landwirtschaftsminister 
entführt. Ein Jubelschrei würde durch das ganze deutsche Volk gehen, wenn 
Herr v. Schorlemer sich ganz seinen privaten Geschäften widmete. Durch 
die Erlasse des Eisenbahnministers und des Ministers des Innern ist ja 
zugestanden worden, daß nicht alles vollkommen geklappt hat; schlimmer 
aber ist, daß auch jetzt nach 2½ Jahren noch nicht alles klappt. Dieser 
langsame Gang bei einer Frage, wo es um das Leben und die Existenz
	        
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