98 Die Ssterreichisch= ungarische Monarchie. (Juni 12.—16.)
es sich, daß die Programme, die wir hier gehört haben, schon deshalb
nicht nebeneinander verwirklicht werden könnten, weil sie sich wechselseitig
durchkreuzen, weil sie miteinander geradezu im Widerspruche stehen. (Zu-
stimmung l.) Zur Beseitigung von Zuständen, die man auf der einen Seite
als abänderungsbedürftig ansteh, werden Vorschläge gemacht, die für die
andere Seite noch weit unerträglichere Verhältnisse schaffen müßten, und
die Bölker Oesterreichs wären, wenn sie ihre Wünsche zu einem solchen
Maße steigern und in solcher Form zu verwirklichen versuchen wollten,
verurteilt, ihre Kräfte in endlosen und aussichtslosen Kämpfen aufzuzehren.
Die besonderen Siedlungsverhältnisse, unter denen Bolksstämme und Volks-
bruchteile in diesem innersten Kern von Europa wohnen, haben mit Not-
wendigkeit zur Bildung unseres Staatswesens geführt, und die Geschichte
hat in diesem Krieg unter den allerernstesten Bedingungen die Probe auf
die Richtigkeit ihrer Schöpfung erbracht. Das ist eine Tatsache, die man
nicht überfehen darf, wenn man realpolitisch über Entwicklungsmöglichkeiten
nachdenken will, und die den Bölkern, die innerhalb dieses Staotswesens
Schutz und Sicherung ihrer nationalen Existenz gefunden haben, den Ver-
zicht auf das Summum nationaler Betätigung auferlegt.
Statt jener Programme, die, mit den Bedürfnissen der Gesamtheit,
mit unveräußerlichen Rechten, ja untereinander selbst im Gegensatz, einer
Verwirklichung eben nicht fähig sind, möchte die Regierung Ihnen ein
anderes Programm bieten, das sich allerdings davon stark unterscheidet,
aber doch vielleicht alles das, was jene Vorschläge an wirklichen Bolks-
bedürfnissen Entsprechendem, Erfüllbarem, Realem enthalten, zusammenfaßt
und in Uebereinstimmung bringt. Dieses Programm zeigt Ihnen statt des
Schwankenden das Feste, statt der Teile das Ganze, statt nebelhafter, ver-
schwimmender Staatsgebilde den wirklichen, den erprobten, den kräftigen
Staat. Es kann sich nicht mit den Idealen decken, die nach entgegen-
gesetzten Polen auseinanderstreben, aber es birgt in greifbarer Realität ein
Gemeinsames, das Sie trotz mancher bitterer Worte, die in diesem hohen
Hause schon gefallen sind, im Grunde Ihres Herzens doch alle lieben, nicht
mit der Schwärmerei nationaler Exaltation, aber mit der Liebe anhäng-
licher, dankbarer, vertrauender Söhne. (Lebh. Beif. und Händeklatschen l. —
Widerspruch und anhaltende Zwischenrufe bei den Tschechen.) Das Pro-
gramm der Regierung ist Oesterreich (Stürm. Beif. und Hände-
atschen), das Oesterreich, wie es in einer ruhmvollen, geschichtlichen Ent-
wicklung geworden und gewachsen ist, das Oesterreich, wie es in diesem
Kriege das Bewußtsein seiner unzerstörbaren Kräfte neu gefunden hat, das
Oesterreich, wie es sich im Bollgefühle verjüngter Lebensenergien anschickt.
ein mächtiger Faktor in der wirtschaftlichen und sozialen Weltentwicklung
der Zukunft zu werden, das Oesterreich als ehrwürdige, stolze, seste und
ewige Burg seiner Bölker. Die Regierung könnte es daher nie und nimmer
zugeben, daß an die bewährten Fundamente leichtfertig Hand angelegt
würde. Ebensowenig, als sie für Verfassungsexperimente zu haben wäre,
verkennt sie aber die Notwendigkeit eines zweckmäßigen und organi-
schen Ausbaues des Bestehenden. Es ist eine Tatsache, daß die Ber-
assung von dem Zeitpunkt ihres Inslebentretens an niemals volle Zu-
iedenheit erweckt hat. Sie vermochte die Lösung des österreichischen
Problems wohl richtig anzubahnen, aber sie hat für seine Einzelheiten noch
nicht durchwegs das abschließende Wort gefunden. Wechselnde Strömungen
suchten das Ziel vergeblich bei den Extremen der Zentralisation und des
Autonomismus; auch die Hoffnungen, die in dieser Richtung auf die durch-
greifende Erweiterung des Wahlrechtes gesetzt wurden, haben sich nicht voll
erfüllt. Während es sich eben bei der Verfassungsentwicklung in national