fullscreen: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

Witte in 
Norderney 
42 DIE KAPPS 
Kanzler, zusammen einzusperren, damit sie möglichst rasch zu einem 
für beide Teile befriedigenden Ergebnis gelangten. In einem Gefängnis 
brauchten sie sich ja nicht gerade zu begegnen, Witte möge nach Norderney 
kommen, wo der deutsche Kanzler die heißen Monate zu verleben pflege 
und wo die gute Seeluft auch Sergej Juljewitsch neue Spannkraft verleihen 
würde. Die Antwort des Zaren lautete freundlich und zustimmend. 
Im Laufe des Juli traf Witte in Norderney ein. Er hatte einen großen 
Stab von Beamten mitgebracht, darunter den früheren russischen Finanz- 
attache in Berlin und späteren Handelsminister Timiriaseff, der ein guter 
Musiker und schlauer Unterhändler war. Ich hatte eine größere Anzahl 
leitender Beamten nach der Nordseeinsel zitiert, unter ihnen Posadowsky, 
Podbielski, Wermuth, Körner und eine Reihe vortrefllicher Hilfskräfte, 
darunter Kapp und Göbel. Wolfgang Kapp war in New York geboren, als 
Sohn eines Westfalen, der als Vierundzwanzigjähriger im September 1848 
zu den revolutionären Sturmgesellen gehört hatte, die versuchten, die 
Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche mit Waffengewalt 
zu sprengen. Er mußte deshalb sein Vaterland verlassen, blieb aber auch 
in Amerika ein guter Deutscher und kehrte 1870 nach Deutschland 
zurück. Er hat ein vortreflliches Buch über den schmählichen Sol- 
datenhandel deutscher Kleinfürsten geschrieben. Der Sohn Kapp trat 
jung als Hilfsarbeiter ins Preußische Finanzministerium ein und wurde 
dann Landrat des Kreises Guben, wo er als ultrakonservativer Parteimann 
auftrat und in beständiger Fehde mit dem Vertreter des Kreises, dem liberal 
gerichteten Prinzen Heinrich Carolath, lebte, obwohl der letztere eine 
liebenswürdige, aber weiche Natur war, weswegen er auch den Spitznamen 
„Butter-Heinrich“ führte. 1900 wurde Wolfgang Kapp Vortragender Rat 
im Preußischen Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten, 
als dessen Kommissar er bei den Handel handl in Norder- 
ney 1904 fungierte. Er war ein hervorragend fleißiger und tüchtiger Beamter, 
von durchaus ehrenhaftem Charakter, ein Patriot und ein Idealist, aber es 
fehlte ihm die Einsicht in die Grenzen seiner bescheidenen Fähigkeiten wie 
der Überblick über größere Verhältnisse und die allgemeine Lage. Als 
selbsternannter Reichskanzler während des Putsches vom Frühjahr 1920 
war er eine tragikomische Figur und erinnerte halb an den General Claude 
Francois de Mallet, der sich im Oktober 1812, unmittelbar nachdem 
Napoleon das brennende Moskau geräumt hatte, zum Gouverneur von 
Paris proklamierte und sich für vierundzwanzig Stunden der Gewalt 
bemächtigte, halb an den Hauptmann von Köpenick. Dem bescheidenen 
Kommissar, der in Norderney in respektvoller Entfernung seinem Chef, 
dem jovialen Podbielski, zu den Sitzungen folgte, war seine bewegte Zu- 
kunft nicht anzusehen, in die ihn letzten Endes wohl die kleinlichen und 
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