wie sein rechtmäßiges Weib: sie lebt und webt mit uns, sie ent-
zückt uns Tag für Tag durch neue Reijze.
Aber mit der steigenden Gesittung ergeben sich neue, ungeahnte
Gefahren für die Freiheit. Nicht bloß die Staatsgewalt kann
tyrannisch sein; auch die nicht organisierte Mehrheit der Gesellschaft
kann durch die langsam und unmerklich, doch unwiderstehlich wir-
kende Macht ihrer Meinung die Gemüter der Bürger gehässigem
Zwange unterwerfen. Und ohne Zweifel ist die Gefahr, daß die
selbständige Ausbildung der Persönlichkeit durch die Meinung der
Gesamtheit in unzulässiger Weise beschränkt werde, in demokra-
tischen Staaten besonders groß. Denn, war in der Unfreiheit
des alten Regimentes mindestens einigen bevorzugten Volksklassen
vergönnt, die persönliche Begabung ungehemmt und im Guten wie
im Bösen glänzend zu entfalten, so ist der Mittelstand, welcher
Europas Zukunft bestimmen wird, nicht frei von einer gewissen
Vorliebe für das Mittelmäßige. Er ist mit Recht stolz darauf,
daß er alles, was über ihn emporragt, zu sich herabzuziehen, alle
unter ihm Stehenden zu sich emporzuheben sucht; und er darf
sein Verlangen, im Leben der Staaten zu entscheiden, auf einen
rühmlichen Rechtstitel stützen, auf eine große Tat, welche er und
mit ihm die alte Monarchie vollzogen hat: auf die Emanzipation
unserer niederen Stände. Aber wehe uns, wenn dieser Gleich-
heitstrieb, der auf dem Gebiete des gemeinen Rechtes die köstlich-
sten Früchte gezeitigt hat, sich verirrt auf das Gebiet der indivi-
duellen Bildung! Der Mittelstand haßt jede offene gewalttätige
Tyrannei, doch er ist sehr geneigt, durch den Bannstrahl der öffent-
lichen Meinung alles zu ächten, was sich über ein gewisses Durch-
schnittsmaß der Bildung, des Seelenadels, der Kühnheit empor-
hebt. Die Friedensliebe, welche ihn auszeichnet und ihn an sich
zu dem politisch fähigsten Stande macht, kann nur zu leicht aus-
arten in träges Behagen, in das gedankenlose, schläfrige Bestreben,
alle Gegensätze des geistigen Lebens zu vertuschen und zu be-
mänteln, nur im Bereiche des materiellen Wirkens (des im-
provementl) ein reges Schaffen zu dulden. Nicht leere Ver-
2 H. v. Treitschke, Feldausgabe. 17