Full text: Auswahl für das Feld.

hängt über jedes große menschliche Wirken den Fluch der Einseitig— 
keit. Es war unmöglich, daß ein Geschlecht von solcher Energie 
des geistigen Schaffens zugleich die kalte Berechnung, den listigen 
Weltsinn, den entschlossenen Einmut und den harten Nationalhaß 
hätte besitzen sollen, welche den unerhörten Gefahren der politischen 
Lage allein Trotz bieten konnten. Wie Luther seines Gottes voll 
für die Bilderpracht des leoninischen Roms kaum einen Blick übrig— 
hatte, so wendeten die Helden der neuen deutschen Bildung ab— 
sichtlich ihre Augen hinweg von der Verheerung, die über den deut— 
schen Südwesten dahinflutete, und dankten mit Goethe dem Schick— 
sal, „weil wir in der unbeweglichen nordischen Masse stecken, gegen 
die man sich so leicht nicht wenden wird“. 
In der Freundschaft Schillers und Goethes fand die menschliche 
Liebenswürdigkeit und die schöpferische Macht der neuen Bildung 
ihren vollendeten Ausdruck. Die Deutschen rühmten sich von alters 
her, kein anderes Volk habe die Blüte der Männerfreundschaft, 
das neidlose treue Zusammenwirken großer Menschen zu großem 
Zwecke so oft gesehen; und unter den vielen schönen Freundschafts- 
bünden ihrer Geschichte war dieser der herrlichste. Zehn reiche 
Jahre hindurch überschütteten die beiden Freunde ihr Volk unab- 
lässig mit neuen Geschenken und bewährten selbander den Goethe- 
schen Spruch: Genie ist diejenige Kraft des Menschen, welche durch 
Handeln und Tun Gesetz und Regel gibt. Und in solcher Fülle 
des Schaffens gaben sie doch nur einen Teil ihres Wesens aus; 
sie wußten, daß dauernder Nachruhm keinem gebührt, der nicht 
größer war als seine Werke. 
Unvergeßlich prägte sich in die Herzen der Jugend dies einzige 
Bild künstlerischer und menschlicher Größe: wie diese beiden durch 
Schicksal, Bildungsgang und Begabung so weit Geschiedenen nach 
langer Verkennung sich endlich fanden und dann auf der Höhe des 
Lebens in schlichter Germanentreue fest zusammenstanden, so einig 
in ihrem Wirken, daß sie selber nicht mehr wußten, wer die ein- 
zelnen Distichen des Tenienkampfes alle geschrieben hatte, und doch 
ein jeder des eigenen Wertes klar bewußt, in voller Freiheit gebend 
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