Full text: Auswahl für das Feld.

hat. Aber daneben stehen sehr viele Züge eines halb bewußtlosen 
Menschenlebens, das „keinen Grund braucht“ für sein Handeln, 
während der heutige Zuschauer sich doch fortwährend im stillen 
nach den Gründen fragt. 
Und untersuchen wir, was Hebbel neu geschaffen hat in dem 
alten Stoffe, so finden wir zwar einzelne überraschend feine Mo— 
tivierungen, welche das Lied gar nicht oder nur leise andeutet, wir 
sehen Brunhilds geheime Liebe zu Siegfried, wir erfahren, daß 
die Eifersucht Kriemhild bewog, ihre Schwägerin zu schelten, und 
daß der Neid der letzte Grund des Hasses ist, den Hagen gegen 
Siegfried hegt, aber wir können nicht sagen, die Helden seien uns 
in dem modernen Drama vertrauter geworden als in dem alten 
Liede. Unvermeidlich vielmehr treten in dem Drama einige moderne 
Züge störend hervor. Die alten Recken beurteilen sich gegenseitig 
mit einer bewußten Klarheit, welche zu ihrem eigenen Tun wenig 
stimmt; und wenn Brunhild zu Gunther spricht: 
in dir und mir 
hat Mann und Weib für alle Ewigkeit 
den Kampf ums Vorrecht ausgekämpft — 
so offenbaren auch diese Worte ein helles Bewußtsein, das wir 
der Königin von Isenland nicht zutrauen. Gestehen wir also: 
wenn uns die Lust anwandelt uns zu erfreuen an der Größe 
unserer Sagenzeit, so greifen wir lieber zu dem Nibelungenliede 
selber, als zu dem neuen Drama. Denn in einer Erzählung ver— 
gangener Taten nehmen wir vieles arglos und willig hin, was 
uns in der unmittelbaren Gegenwart des Dramas verletzt, und 
während die Mängel des alten Liedes uns nur wie das Blei 
erscheinen, worein die Natur das Silber verborgen hat, machen 
die Mängel des modernen Werkes den Eindruck einer fremden 
künstlichen Zutat. Der Dichter hat das mögliche geleistet, aber 
er hat gewisse Bedenken nicht überwinden können, welche notwendig 
gegeben sind durch die ungeheure Kluft, die unser Empfinden von 
dem Seelenleben der epischen Tage trennt. 
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