Full text: Auswahl für das Feld.

diese wohlfeile theoretische Anerkennung, soll praktisch duldsam wer— 
den gegen das Tun und Meinen der einzelnen. So verwandelt 
sich jenes politische Verlangen unter der Hand in eine sittliche An— 
forderung an die Humanität jedes einzelnen. 
Wenn wir aber heute noch die Worte Humboldts von der all- 
seitigen Ausbildung der Persönlichkeit zur Eigentümlichkeit der Kraft 
und Bildung freudig wiederholen, so liegt doch heut ein anderer 
Sinn in der alten Rede; denn diese Zeit ist eine neue, sie zehrt 
nicht bloß von der Weisheit der Altvorderen. Sie genügt uns 
nicht mehr, jene innere Freiheit, welche leidlos und freudlos sich 
abwandte von dem notwendigen Abel des unfreien Staates; wir 
wollen die Freiheit des Menschen im freien Staate. Wie die 
persönliche Freiheit, welche wir meinen, nur gedeihen kann unter 
der Segnung der politischen Freiheit; wie die allseitige Ausbildung 
der Persönlichkeit, welche wir erstreben, nur da wahrhaft möglich 
ist, wo die selbsttätige Ausübung mannigfaltiger Bürgerpflichten 
den Sinn des Menschen erweitert und adelt: so führt uns heute 
jedes Nachdenken über sittliche Fragen auf das Gebiet des Staates. 
Seit die jammervolle Lage dieses Landes in gar so lächerlichem 
Widerspruche steht mit den gereiften Ideen seines Volkes, seit wir 
edle Herzen brechen sahen unter der unerträglichen Bürde der 
öffentlichen Leiden, seitdem ist in die Herzen der besseren Deutschen 
etwas eingezogen von antikem Bürgersinne. Die Erinnerung an 
das Vaterland tritt warnend und weisend mitten hinein in unsere 
persönlichsten Angelegenheiten. Gibt es irgendeinen Gedanken, 
der heute einen rechten Deutschen lauter noch als das Gebot der 
allgemein-menschlichen Pflicht zu sittlichem Mute mahnen kann, 
so ist es dieser Gedanke: was du auch tun magst, um reiner, 
reifer, freier zu werden, du tust es für dein Volk. 
Leipzig 1861
	        
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