Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
78 Innere Politik. I. Buch. 
  
er sich aus dem politischen Leben zurückzog, prophezeit hatte, war in Erfüllung gegangen. 
In den weitesten Kreisen des Volkes hat man die wahre Bedeutung der Wendung von 
1906 mit sicherem Gefühl empfunden und verstanden, bis später wieder parteiprogram- 
matische Prinzipienreiterei wie so oft die klaren Tatsachen verdunkelte. 
Einen großen Erfolg und eine wichtige Lehre haben die Blochahre gebracht. Die 
nationale Front ist verbreitert worden, und der Beweis wurde geliefert, daß die Sozial- 
demokratie zurückgeworfen werden kann. Hier wie dort ein bedeutsamer Gewinn für 
die Lösung der Aufgaben, die die wichtigsten unserer inneren Politik sind. 
Die Freisinnigen sind seit 1907 national einrangiert. Die kleinen Armee- und 
Flottenvorlagen vom Frühjahr 1912 sind von ihnen ebenso angenommen worden wie 
die große Armeeveemehrung des Sommers 1913 und die kolonialpolitischen Forde- 
rungen. Für die Wertung der freisinnigen Mithilfe darf nicht allein die Erwägung 
maßgebend sein, ob die Wehrgesetze auch ohne die freisinnige Mitarbeit eine Mehr- 
heit im Reichstag gefunden hätten. Der Gewinn liegt darin, daß früher wohl eine 
Mehrheit von bürgerlichen Parteien für die nationalen Erfordernisse des Reiches ein- 
stand, eine Mehrheit, die meist mit großer Mühe zusammengebracht werden mußte, 
jetzt aber die sämtlichen bürgerlichen Parteien gegenüber der Sozialbemokratie und den 
nationalistischen Parteien und Parteisplittern zusammenstehen. Oie nationalen Fragen 
des Reiches haben aufgehört, ein Gegenstand innerpolitischer Besorgnis zu sein. Und 
die geschlossene Wucht, mit der in den Alngelegenheiten der Reichsverteidigung der 
nationale Gedanke im gesamten deutschen Bürgertum zum Ausdruck kommt, muß auch 
für das deutsche Ansehen im Auslande als wertvolles Aktivum gebucht werden. 
zur Geschichte der Man darf nur zurückblicken auf das Los der größeren 
deutschen Wehrpolitik. Wehrvorlagen während der letzten Fahrzehnte. um den 
Fortschritt zu ermessen, der errungen worden ist. Das ist 
um so bedeutsamer, als der nationale Gedanke heute nicht nur in der Richtung der alten 
ruhmreichen preußisch-deutschen Kontinentalpolitik wirken soll, sondern auch in der 
Richtung der neuen Weltpolitik, die einstweilen mehr Zukunft als Vergangenheit bedeutet. 
Es gilt heute nicht nur die Armee, sondern auch die Flotte. Die bürgerlichen Parteien 
im Reichstag haben größere materielle Opfer für die nationalen Leistungen vor dem 
Lande zu vertreten, und sie sollen deshalb dem nationalen Gedanken einen größeren 
Raum geben. 
Es ist an sich eine gewiß seltsame Tatsache, daß gerade im waffentüchtigsten und 
waffenfrohesten der Völker Europas die Parteien sich so schwer mit neuen Forderungen 
für die Wehrkraft des Reiches abgefunden haben, daß erst nach mehr als dreieinhalb 
Jahrzehnten eine Einmütigkeit wenigstens der bürgerlichen Parteien erreicht werden 
konnte. Die Schuld an dieser Haltung der Parteien trug weniger mangelnder Patriotis- 
mus als jene parteipolitische Machtpolitik und die parteiprogrammatische Verbissenheit, 
von denen schon die Nede war. Der Regierung fiel die Aufgabe zu, die in allen bürger- 
lichen Parteien ruhenden patriotischen Gefühle zu wecken, zu beleben und sie spontan und 
vorurteilslos festzuhalten, wenn sie stark genug schienen für die praktische Mitarbeit an den 
  
  
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