80 gnnere Politik. I. Buch.
Einschluß des Freisinns. Die Zeit war noch nicht reif. Der Ablehnung der Vorlage
durch Zentrum, Freisinnige und Sozialdemokraten folgte die Auflösung des Reichs-
tags. Im Wahlkampf trennte sich von der Fortschrittspartei die militärfreundliche
freisinnige Vereinigung ab, aber eine nationale Mehrheit ohne Zentrum brachten die
Wahlen nicht. Die Sozialdemokratie gewann an Mandaten. Die Mehrheit der Frei-
sinnigen verharrte in Opposition. Die Mehrheit — 201 gegen 185 — kam nur mit
Hilfe der von 16 auf 19 angewachsenen Polenpartei zustande. Der nationale Gedanke
hatte im Freisinn wohl an Boden, aber nicht den Sieg gewonnen, im Zentrum dem
Parteiinteresse den Rang abzulaufen nicht vermocht.
Sechs Jahre später mußte sich die Regierung recht erhebliche Abstriche an ihrer Vorlage
gefallen lassen und brachte trotzdem die neue Militärvorlage erst nach heftigen Kämpfen
gegen die Opposition der Freisinnigen und Sozialdemokraten mit dem Zentrum zur
Verabschiedung. Von einer freudigen oder gar begeisterten Annahme war keine Rede,
und ein innerpolitischer Konflikt stand eine Zeitlang in greifbarer Nähe. Für die Heeres-
verstärktung um 10 000 Mann im Frühjahr 1905 fand ich die Zolltarifmehrheit bereit,
der Freisinn stand noch immer ablehnend zur Seite. Aicht viel anders bei den Flotten-
vorlagen. Hitzige Kämpfe waren auch bier die Regel, und es war die Zustimmung meifst
das Produkt langwieriger Verhandlungen und Auseinandersetzungen zwischen Regierung
und Parteien. Nachdem im Zahre 1897 nicht einmal zwei Kreuzer bewilligt worden waren,
gelang es im darauffolgenden Zahre in demselben Reichstag eine Mehrheit für die erste
große Flottenvorlage zu gewinnen. In der Zwischenzeit war freilich eine umfassende
aufklärende Arbeit geleistet worden. Kaiser Wilhelm ll. hatte sich mit seiner ganzen
Person für die große nationale Sache eingesetzt. Große Gelehrte wie Adolph Wagner,
Schmoller, Sering, Lamprecht, Erich Marcks und viele andere leisteten damals und in
der Folgezeit wertvolle Werbearbeit für den Flottengedanken, vor allem unter den
Gebildeten der Nation. Die Vorlage von 1898 wurde von einer Mehrheit von 212
gegen 139 Stimmen angenommen. 20 Mitglieder des Zentrums, der gesamte Freisinn
und selbstverständlich die Sozialbemokratie versagten sich. Die bedeutungsvolle Flotten-
vorlage des Jahres 1900 fand den Freisinn wiederum geschlossen auf der Seite der
Gegner. Das Zentrum gab, dieses Mal geschlossen, seine Zustimmung nach Vermin-
derung der geforderten Kreuzerzahl von 64 auf 51. Im Zahre 1906 wurden von der
Folltarifmehrheit diese gestrichenen Neubauten bewilligt. Ebenso wurde die durch das
englische Vorbild notwendig gewordene Vergrößerung der Schlachtschiffdimensionen
genehmigt.
Gewiß ist es gelungen, für alle diese Wehrvorlagen schließlich bürgerliche Mehr-
beiten zu gewinnen. Aber die Bewilligung war fast immer Erzeugnis schwieriger Ver-
handlungen und nicht selten unbequemer Kompromisse gewesen. Wir waren weit davon
entfernt, von vornherein auf das Vorhandensein einer großen sicheren nationalen Mehr-
beit für berechtigte und wohlbegründete Wehrvorlagen rechnen zu können. Mehr ale
einmal hatte die Entscheidung auf des Messers Schneide gestanden. Und wenn nicht,
wie bei der Militärvorlage von 1893 unerwarteter Sukkurs von der Seite der Polen
kam, waren regelmäßig Erfolg und Mißerfolg abhängig gewesen von der vorhandenen
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