I. Buch. II. Der nationale Gedanke und die Parteien. 81
oder mangelnden Bereitwilligkeit des Zentrums. Das mußte dieser Partei nicht nur
ein sehr starkes Machtbewußtsein, sondern auch sehr große tatsächliche Macht geben.
Das vor 1907 oft gehörte Wort vom „allmächtigen Zentrum“ entbehrte nicht der Berech-
tigung. Einer Partei, von deren gutem Willen das Reich in allen nationalen Existenz-
fragen abhing, fehlte in der Tat nicht viel zu politischer Hegemonie wenigstens auf den-
jenigen Gebieten, die verfassungsgemäß dem Einfluß der Parteien und der Volksver-
tretung offenstehen. Als nun vollends die Kolonialdebatten des Winters 1906 zeigten,
daß keineswegs mit voller Sicherheit auf das Zentrum in allen nationalen Fragen ge-
rechnet werden konnte, wurde es klar, daß die Aufgabe, diese Fragen im Partei-
kampf sicherzustellen, noch erst zu lösen war. Das Einschwenken der Fortschrittspartei,
der Wahlsieg der neuen Mehrheit, des Blocks, bedeutete das Ende jener eben gekenn-
zeichneten Zentrumsherrschaft. Das Zentrum erfuhr, daß das Schicksal nationaler
Fragen nicht mehr von ihm allein abhing, und es erfuhr weiter, daß die ablehnende
Haltung in solchen Fragen seiner parlamentarischen Machtstellung verhängnisvoll
werden konnte. Wenn auch der Block nur wenige Jahre zusammengehalten werden
konnte, so bleibt doch immer die Möglichkeit bestehen, daß er sich wieder zusammenfinden
würde, wenn das Zentrum in einer nationalen Lebensfrage versagen, an der Seite
der Sozialdemokratie ein nationalen Zwecken dienendes Gesetz zu Fall bringen sollte.
Das Zentrum wird nicht so bald wieder wie mehrfach in früheren Zahren aus einer
Verstimmung über Vorgänge der inneren Politik Konsequenzen für seine Haltung
gegenüber nationalen Fragen ziehen. Daß die Freisinnigen den 1906 vollzogenen
Frontwechsel als bleibend ansehen, haben sie im Frühjahr 1912 und im Sommer 1913
bewiesen.
Daß sich eine solche Entfaltung des nationalen Gedankens, eine derartige Wand-
lung in der Stellung der Parteien zu den Wehr- und Rüstungsfragen des Reiches voll-
zogen hat, muß den Patrioten mit Freude und Zuversicht erfüllen. Vor 50 Jahren
sah sich König Wilhelm im Kampfe um die Reorganisation des preußischen Heeres mit
seinem Ministerium und einer lleinen konservativen Minderheit allein. Um jede auch
kleine Militärforderung hat nach der Reichsgründung ein Bismarck zäh mit den
Parteien ringen müssen. Das Jahr 1893 sah um eine Militärforderung aufs neue
einen schweren innerpolitischen Konflikt. Im Oktober 1899 mußte Kaiser Wilhelm II.
llagen, daß die Verstärkung der Flotte ihm während der ersten 8 Jahre seiner Regie-
rung „trotz inständigen Bittens und Warnens“ beharrlich verweigert worden wäre.
Als dem Flottengedanken endlich Boden im Volke gewonnen war, konnten doch
die einzelnen Flottengesetze nicht ohne schwere parlamentarische Kämpfe unter Dach
gebracht werden.
Die Wehrvorlagen des Jahres 1912 wurden von der Gesamtheit der deutschen
bürgerlichen Parteien des Reichstages bewilligt. Die Militärvorlage des Jahres 1913
fand eine Bereitwilligkeit der Parteien vor, wie nie zuvor irgendeine Forderung für die
Rüstung zu Lande und zu Wasser. Um die Wehrvorlage selbst war überhaupt kaum eine
ernsthafte Auseinandersetzung erforderlich. Wenn um die Deckungsfragen von den
Parteien gestritten wurde, so waren hierfür Gründe der allgemeinen parteipolitischen
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