Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
I. Buch. Auswärtige Politik. 7 
  
zu verzichten und der machtpolitischen Fortführung des Einigungswerks zu entsagen, 
das es wirtschaftspolitisch zielbewußt begonnen hatte. Wohl waren durch die Uberleitung 
des Staatslebens in konstitutionelle Bahnen neue Kräfte für das nationale Leben frei 
geworden. Unendliches hätte dieser Staat an innerer Lebendigkeit und nationaler 
Stoßkraft gewonnen, wenn dieses treue Volk zu rechter Zeit zur politischen Mitarbeit 
berufen worden wäre, wie es Stein und Hardenberg, Blücher und Gneisenau, Wilhelm 
von Humboldt und Bopen, auch Vorck und Bülow-Dennewitz gewünscht hatten. A2I# 
der große Schritt 33 Jahre zu spät getan wurde, war das Mißtrauen zwischen Volk 
und Obrigkeit schon zu tief eingefressen, hatte das Ansehen der Regierung im Berlauf 
der revolutionären Erhebung zu schweren Schaden genommen, als daß die modernen 
Staatsformen unmittelbar hätten Segen bringen können. Der Gang der preußischen 
Politik war gehemmt im Innern durch eine mißtrauische und in Doktrinen befangene 
Volksvertretung, nach außen durch den unbesiegten Widerstand der österreichischen 
Vormachtsansprüche. Da griff, von König Wilhelm im entscheidenden Augenblick be- 
rufen, nahezu in zwölfter Stunde Bismarck in das stockende Räderwerk der preußischen 
Staatzsmaschine. 
Daß eine normale geschichtliche Entwicklung zur staatlichen Einigung Deutschlands 
unter preußischer Führung gelangen mußte, daß es das vornehmste Ziel preußischer 
Staatskunst war, diese Entwicklung zu beschleunigen und zu vollenden, das war den 
einsichtigen Patrioten jener JZahre wohl bewußt. Aber alle Wege, die man beschritten 
hatte, um zum Ziele zu gelangen, hatten sich als ungangbar erwiesen. Von der Ini- 
tiative der preußischen Regierung schien je länger, je weniger zu erwarten. Die gut- 
gemeinten, aber unpraktischen Versuche, das deutsche Volk zu veranlassen, die Bestim- 
mung seiner Geschicke selbst in die Hand zu nehmen, scheiterten, weil die in Deutschland 
wie kaum in einem anderen Lande ausschlaggebende treibende Kraft der Regierungen 
fehlte. Im „Wilhelm Meister“ erwidert der erfahrene Lothario der schwermütigen 
ANrrelie, die an den Deutschen vieles auszusetzen hat, es gäbe in der Welt keine bravere 
Nation als die deutsche, sofern sie nur recht geführt werde. Der Deutsche, welches 
Stammes er immer sei, hat stets unter einer starken, stetigen und festen Leitung das 
Größte vermocht, selten ohne eine solche oder im Gegensatz zu seinen Regierungen und 
Fürsten. Bismarck hat uns in seinen „Gedanken und Erinnerungen“ selbst erzählt, daß 
er sich hierüber von Anfang an nicht im Zweifel war. Mit genialer Intuition fand er den 
Weg, auf dem sich die Hoffnungen des Volkes mit den Interessen der deutschen Regierungen 
zusammenfinden mußten. Er war wie kaum je ein Staatsmann eingedrungen in die Ge- 
schichte der Nation, deren Leitung in seine Hände gelegt war. Hinter dem äußeren Zu- 
sammenhang der Ereignisse suchte und fand er die treibenden Kräfte des nationalen Lebens. 
Die große Zeit der Befreiung und Erhebung Preußens ist ihm, der im Jahre von Waterloo 
geboren und von Schleiermacher in der Berliner Dreifaltigkeitskirche eingesegnet worden 
war, nie aus dem Gedächtnis geschwunden, sie stand im Anfang seines weltgeschichtlichen 
Wirkens in voller Lebendigkeit vor seinen Augen. Er fühlte, daß sich in Deutschland nationaler 
Wille und nationale Leidenschaft nicht entzünden in Reibungen zwischen Regierung und 
Volk, sondern in den Reibungen deutschen Stolzes und Ehrgefühls an den Widerständen 
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