Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
88 Gnmere Politik. I. Buch. 
  
2. Dezember erst wieder erinnert, als er sich grobe Blößen in der auswärtigen Politik 
gab, und erst nach dem Tage von Sedan wurde die Rue du 2 décembre in Rue du 4 
septembre umgewandelt. Dagegen spricht jede Seite der deutschen Geschichte davon, 
wie zäh der Deutsche sein gutes altes Recht verteidigt, wie unversöhnlich er selbst dann 
bleibt, wenn altes Recht zur Seite geschoben wurde, um einem gesunden notwendigen 
Fortschritt den Weg zu bahnen. Das Recht soll gewiß nicht über den Staatsnotwendig- 
keiten stehen, das Fiat justitia pereat mundus gilt nicht für die Politik. Aber solange den 
Staatsnotwendigkeiten auf dem Boden des Rechts genügt werden kann, soll es geschehen. 
Auch im Kampfe gegen die Sozialdemokratie. Bricht die Sozialdemokratie offen das 
Kecht, so muß ihr selbstverständlich mit gleicher Münze gedient werden. Eine solche 
Wendung kann in Rechnung gezogen, sie darf aber nicht herbeigewünscht oder gar 
Keine Politik der Ausföhnung. forciert werden. Gewaltmittel ohne innere 
Heilung haben noch nie zu dauernden Er- 
gebnissen geführt. Auf der anderen Seite kann unter unseren deutschen und insbesondere 
unter unseren preußischen Verhältnissen die sozialdemokratische Partei mit ihrem heutigen 
Programm und ihren gegenwärtigen Zielen nicht auf dieselbe Linie mit den Parteien 
gestellt werden, die auf dem Boden der bestehenden Staatsordnung stehen. Der Ver- 
gleich mit anderen Ländern, in denen es gelungen ist oder allmählich zu gelingen scheint, 
die sozialistische Partei an die Regierung heranzuziehen, hält unseren deutschen Ver- 
hältnissen gegenüber nicht Stich. Wir haben ein anderes Staatsleben, haben vor allen 
Dingen eine andere Sozialdemokratie. Auch hier gilt die Warnung Bismarcks, das Vor- 
bild nicht im Auslande zu suchen, wenn uns die zur Nachahmung des Auslandes not- 
wendigen Voraussetzungen und Eigenschaften fehlen. In Frankreich sind Sozialisten 
Minister und gute Minister geworden und haben gezeigt, wie recht das französische 
Sprichwort hat, das sagt qu'un Jacobin ministre wWest pas toujours un ministre jacobin. 
Arristide Briand, einst ein radikaler Sozialist, erwies sich als ein entschlossener Hüter 
der öffentlichen Ordnung, der Sozialdemokrat Millerand als ein ezzellenter Kriegs- 
minister. Auch in #Stalien ist der Versuch gelungen, die Sozialisten zur Mitregierung 
beranzuziehen. In Holland und in Dänemark sind gleiche Versuche wohl nur vorläufig 
aufgegeben worden. In einer ganzen Reihe anderer Länder wird es voraussichtlich 
nicht lange dauern, bis das französische und italienische Vorbild einer allmählichen 
Aussöhnung mit den sozialistischen Elementen Nachahmung findet. Wir dürfen 
uns durch die anscheinend günstigen Erfolge solcher Experimente nicht täuschen lassen. 
Wie unsere geschichtliche Vergangenheit, unsere staatliche Entwicklung, unsere poli 
tische Eigenart von denen anderer Völker unterschieden sind, so ist es auch unser sozial- 
demokratisches Problem. Wir müssen unsere eigenen Zustände studieren, die Eigenart 
der deutschen Sozialdemokratie, die die Grundlagen unseres staatlichen Lebens angreift, 
die Eigenart unseres staatlichen Lebens, die wir gegen die Sozialdemokratie zu vertei- 
digen haben. 
Die Stärken und die Schwächen unserer nationalen Veranlagung kommen auch 
in der deutschen Sozialdemokratie zum Auedruck. Sie ist so, wie sie ist, nur in 
Deutschland möglich. Sie ist für uns so gefährlich, weil sie so deutsch ist. Kein Volk 
  
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