90 Inmere Politik. I. Buch.
von der NRegierungslokomotive im vorgezeichneten Geleise mitziehen zu lassen, sie würde
selbst Lokomotive sein wollen und versuchen, nach der entgegengesetzten Richtung zu
ziehen. Einem Mann aus ihrer Mitte, der als Minister in den Oienst der bestehenden
Zustände tritt, würde die Sozialdemokratie so wenig folgen, wie es jemals eine andere
deutsche Partei getan hat.
Es kommt hinzu, daß der dem deutschen Volke eigene doktrinäre Zug auch in unserer
Sozialdemokratie mächtig ist. Der deutsche Sozialdemokrat hängt zäh an den Programm-
sätzen seiner Partei, zäh und kritiklos und unbekümmert um die inneren Widersprüche
des sozialdemokratischen Programms. Weil dieses Programm unvereinbar ist mit dem
bestehenden Staat, ist die deutsche Sozialdemokratie unversöhnlich. Die deutschen Arbeiter
sind mehr als die irgendeines anderen Landes geneigt, den sozialistischen Leitsätzen, den
geistoollen Trugschlüssen von Lassalle, dem mit mächtiger Denkkraft und seltenem Scharf-
sinn, mit ungewöhnlichen Kenntnissen und mit noch ungewöhnlicherer Dialektik kon-
struierten, aber durch die historische Entwicklung widerlegten und in seinem Fundament
erschütterten Spstem von Marzx unbedingten Glauben zu schenken. Als Herr Giolitti den
italienischen Sozialisten zurief, daß sie die Marxschen Lehrsätze ja längst zum alten Eisen
geworfen hätten, antwortete ihm verständnisvolle Heiterkeit. Bei uns würde eine solche
Apostrophierung entrüstete Proteste hervorrufen. Unsere Sozialdemokratie, die aus der
Eisenacher Richtung hervorgegangen ist, der nicht Lassalle und Rodbertus, sondern Marz
und Engels, Bebel und Liebknecht die Wege gewiesen haben, steht in einem ungleich
schrofferen Gegensatz zum Staat wie die sozialistischen Parteien Frankreichs und Ztaliens,
die den sozialistischen Theorien einen mehr akademischen Wert beimessen, die nicht allein
auf den sozialistischen Gedanken, sondern auch auf nationale Erinnerungen gegründet
sind. Der französische Sozialismus wurzelt im letzten Ende in der großen Revolution,
der italienische im Risorgimento. Diese Erinnerungen sind mindestens nicht abgestreift
worden, und Revolution wie Risorgimento waren von leidenschaftlichem patriotischem
Geist bewegt. Unserer Sozialdemokratie fehlt diese nationale Basis. Sie will von den
deutschen patriotischen Erinnerungen, die monarchischen und militärischen Charakter tra-
gen, nichts wissen. Sie ist nicht wie die italienische und französische ein Niederschlag im
nationalen geschichtlichen Entwicklungsprozeß, sondern sie ist seit ihrem Entstehen in
bewußten Gegensatz zu unserer Geschichte und unserer nationalen Vergangenheit getreten.
Sie hat sich selbst außerhalb unseres nationalen Lebens gestellt. Was in diesem bestehenden
Staat erreicht und geleistet wird, das interessiert sie nur, soweit es dazu dienen kann, die
geltenden Ordnungen zu zermürben und damit für die Durchführung rein sozialistischer
Ideen nützliche Vorarbeit zu leisten. In dem Kalender, den der „Borwärts“ in jedem Jahr
herauszugeben pflegt, werden Bismarck und Moltke, Blücher und Scharnhorst, Ziethen
und Seidlitz nicht genannt, Leipzig und Waterloo, Königgrätz und Sedan nicht erwähnt,
wohl aber eine Reihe russischer Mihilisten und italienischer Anarchisten mit ihren Atten-
taten aufgeführt.
Wie eine der besten deutschen Tugenden, das Disziplingefühl, in unserer Sozial-
demokratie zu besonderem und bedenklichem Ausdruck kommt, so auch unser alter Fehler,
der Neid, der schon Tacitus bei unsern Altvordern auffiel. Propter invickam, sagt
90