Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
I. Buch. II. Der nationale Gedanke und die Parteien. 91 
  
er, hätten die Germanen ihren Befreier, den Cherusker, zugrunde gerichtet. Neid ist 
eine Hauptwurzel unserer sozialdemokratischen Bewegung. Die wirtschaftlichen Gegen- 
sätze sind in der modernen Zeit auch in anderen Ländern ebenso verschärft worden wie bei 
uns. Oie leidenschaftliche Erbitterung, die dadurch in Deutschland erzeugt worden ist, 
wird man anderswo vergeblich suchen, trotzdem bei uns auf sozialpolitischem Gebiet so 
viel geleistet worden ist, obwohl Deutschland allen anderen Ländern mit seiner sozialen 
Fürsorge vorangegangen und von keinem anderen bisher erreicht worden ist. Der in der 
Entstehungszeit der Sozialdemokratie begründete Kampf der lohnarbeitenden Klassen 
um bessere Ezistenzbedingungen ist in Deutschland zu einem bisweilen fanatischen Haß 
gegen Besitz und Bildung, Geburt und Stellung geworden. An diesem Neid haben auch 
die segensreichen Einrichtungen zur Hebung des Lebensstatus der Arbeiter nicht viel ändern 
können. Dieser Reid, am Anblick des Unterschiedes von reich und arm täglich neu ent- 
zündet, würde nicht verschwinden, wenn dieser oder jener Führer sich auf der Minister- 
bank niederließe. Diesem Aeid ist unsere sozialdemokratische Bewegung Sammelbecken 
geworden. Gerade das letzte Ziel der Sozialdemokratie, die Vernichtung der Besitz- 
unterschiede durch Aufhebung des Privateigentums und Verstaatlichung der Produktions-- 
mittel, wird von der deutschen Sozialdemokratie mit besonderer Liebe und zähem Eigen- 
willen festgehalten. Auch propter invidiam wird die Sozialdemokratie sich nicht für 
eine Politik der Aussöhnung gewinnen lassen. Und endlich findet der leidige deutsche Ka- 
stengeist, der einem unbefangenen gesellschaftlichen Miteinanderleben im Wege steht, 
der unser ganzes politisches Leben ungünstig beeinflußt, seinen letzten und schärfsten Aus- 
druck im sozialdemokratischen Klassenbewußtsein. Die alten Stände waren geschichtlich 
entstanden, von den öffentlich-rechtlichen Zuständen abgegrenzt worden. Oas klassen- 
bewußte sozialdemokratische Proletariat hatsich selbst gebildet und gegen das übrige Bürger- 
tum eine Grenzwand aufgerichtet. Es will nichts gemein haben mit den anderen Ständen. 
Und, wie es jeder Kaste eigen ist, hält sich das sozialdemokratische Proletariat nicht nur 
für besser, brauchbarer, berechtigter als die anderen Volksklassen, sondern es erstrebt auch 
eine Vorherrschaft über alle anderen Stände. Wenn bei uns der Versuch gemacht würde, 
die sozialdemokratische Klassenpartei den bürgerlichen Parteien einzurangieren, so ist 
es noch sehr die Frage, ob sich unsere Sozialdemokratie auf eine solche Einrangierung ein- 
lassen würde. Sie fühlt sich zur Alleinherrschaft im Staat berufen und wird sich kaum an 
einer legalen Mitherrschaft genügen lassen. 
Der preußische Staat und Im Deutschen Reich ist Preußen der führende 
die Sozialdemokratie. Staat. Die Sozialdemokratie ist die Antithesis 
des preußischen Staates. Ein bekannter Ausspruch 
Hegels besagt, daß jeder Begriff seinen Gegenbegriff in sich schließt. Es liegt ein tiefer 
Sinn darin, daß der Philosoph, der den Staat den präsenten Gott genannt hat, dessen 
Rechtsphilosophie eine Verherrlichung des preußischen Staates war, der sich der beson- 
deren Protektion höchster preußischer Staatsautoritäten erfreute, den Schlußfolgerungen 
von Marz die logischen Voraussetzungen geschaffen hat. 
Oie Eigenart des preußischen Staates, mit deren Verlust unserem staatlichen Leben 
  
  
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