I. Buch. I1I. Wirtschaftspolitit. 101
Völkern trennte, die wir heute überflügelt haben. Nur der überschäumenden Lebens-
kraft eines kerngesunden, willensstarken und ehrgeizigen Volkes konnte solches gelingen.
Aber wir dürfen uns nicht verhehlen, daß das beinahe rasende Tempo unseres wirtschaft-
lichen Emporkommens doch vielfach die ruhige organische Entwicklung gestört und ODisso-
nanzen geschaffen hat, die eine Ausgleichung erforderten. Der Mensch ist geneigt, über
den in die Augen stechenden Erfolgen, die er einer speziellen Begabung verdankt, die
harmonische Entwicklung seiner anderen Fähigkeiten und Kräfte zu vernachlässigen.
Er wird bisweilen solche Einseitigkeit mit empfindlichen Rückschlägen büßen mühssen,
wenn veränderte Verhältnisse andere Kräfte und Leistungen erfordern. Zn Deutschland
war der rapide wirtschaftliche Aufschwung ein durch die Sonne der Zeitverhältnisse be-
günstigtes rasches Emporblühen der Industrie und des Handels. Die vollendeten moder-
nen Verkehrsmittel öffneten uns anders als früher die Märkte auch entlegener Länder.
Oie Schätze unseres heimischen Bodens waren noch ungehoben, die unvergleichlichen
Fortschritte der Maschinen- und Elektrotechnik stellten ganz neue industrielle Betriebsmittel
zur Verfügung und das rasche Wachstum unserer Bevölkerung lieferte die Massen der
Arbeiter zur Gründung und Ausdehnung großer industrieller Betriebe. Dazu gaben
vier Zahrzehnte des Friedens die Möglichkeit, den Weltmarkt in jeder Beziehung zu
bearbeiten. Die kaufmännische und industrielle Begabung des deutschen Volkes, die
uns schon einmal vor Zahrhunderten zum ersten der handel- und gewerbetreibenden
Völker gemacht hatte und durch unsere staatliche Verkümmerung und einen schweren
nationalen Daseinskampf bis zum letzten Orittel des 19. Jahrhunderts niedergehalten
worden war, fand die Gunst der Zeitverhältnisse in seltener Weise zu ihrer Verfügung.
Als sich Unternehmer und königliche Kaufleute fanden, Männer wie Stumm und
Krupp, Ballin und Rathenau, Kirdorf und Borsig, Gwinner und Siemens, die
Gunst der Zeit zu benutzen, mußten Industrie und Handel die Erfolge der nächsten
Zukunft gehören. Die Nation wandte sich mehr und mehr den sich neu eröffnenden Aus-
sichten zu. Die unteren Volksklassen strömten vom flachen Lande hinweg den industriel-
len Betrieben zu. Aus den mittleren und oberen Schichten des Bürgertums bildete sich
ein zahlreiches tüchtiges industrielles Beamtentum. Die Industrialisierung, die sich um
die Mitte des 19. Jahrhunderts angekündigt hatte, vollzog sich nach der Gründung des
Reichs, vor allem seit dem Ausgang der achtziger Fahre in Deutschland mit einer Vehe-
menz, die nur in den Vereinigten Staaten ihresgleichen hat. Roch im Jahre 1882 er-
nährte die deutsche Landwirtschaft fast so viel Menschen wie Handel und Industrie zu-
sammen, im Jahre 1895 stand sie schon allein hinter der Zndustrie um beinahe 2 000 000
Berufszugehörige zurück. In dreizehn Jahren eine völlige Umkehr der Verhältnisse.
Industrie und Landwirtschaft. Die wirtschaftliche Gesetzgebung des Neiches
hatte zwei Möglichkeiten, dieser grundstürzen-
den Veränderung Rechnung zu tragen. Sie konnte ihre ganze Hilfe den ohnehin durch
die Zeitumstände begünstigten, mächtig und mit Leichtigkeit emporstrebenden Gebieten
der Industrie und des Handels zur Verfügung stellen, stärken, was an sich am stärksten
schien, Deutschland der Umwandlung in einen reinen Industrie- und Handelsstaat
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