I. Buch. III. Wirtschaftspolitik. 103
während der ersten Zahrzehnte ihrer Entwicklung auf Kosten der Landwirtschaft erstarkt.
Wurde nicht eingegriffen, so drohte die Landwirtschaft unter die Hämmer der Industrie
zu geraten und zerstampft zu werden. Das bedeutete aber nicht nur eine Schädigung
der Landwirtschaft selbst, sondern auch einen Verlust für die Nation. Es sind zu wert-
volle und unentbehrliche Kräfte, die von der Landwirtschaft auf unser nationales Leben
wirken, als daß wir je aufhören dürfen, mit aller Energie zu sorgen für Wohl und
Wehe der deutschen Landwirtschaft. Das wirtschaftliche Leben eines Volkes ist nicht
wie ein weitverzweigtes Handelsgeschäft, für das die einzelnen Geschäftszweige grö-
ßeres oder geringeres Interesse haben, je nach dem Stande ihrer momentanen
Gewinnchancen.
Volksreichtum und Volksgesundheit. Abgesehen davon, daß die Landwirtscheft
als Produzent wie als Konsument der In-
dustrie durchaus ebenbürtig zur Seite steht, kommen für die rechte Wertung der wirtschaft-
lichen Kräfte eines Volkes andere als nur wirtschaftliche Gesichtspunkte in Betracht. Die
nationale Okonomie eines Volkes hat nicht nur ökonomische, sondern auch nationale Be-
deutung. Es kommt nicht allein darauf an, was durch die verschiedenen Arten des Erwerbs
materiell gewonnen wird. Es kommt auch darauf an, wie die Erwerbsgebiete auf die Erhal-
tung und Entfaltung der physischen und ideellen Kräfte des Volkes wirken. Gewiß bedarf
ein Volk der Vermehrung seines Wohlstandes, seiner finanziellen Leistungsfähigkeit.
Die Staaten unserer Tage bedürfen dessen noch mehr als die früherer Zeiten. Die mo-
derne Staatsverwaltung mit ihrem ungeheuren Wirkungskreise, vor allem die moderne
Staatsrüstung erfordern ganz andere materielle Mittel, als dies früher der Fall war.
Aber mit materiellen Mitteln allein kann ein Volk seinen Platz in der Welt weder behaup-
ten noch vergrößern. Physische, sittliche und geistige Gesundheit sind auch heute noch
der größte Volksreichtum. Was ein an Geist und Leib gesundes aber armes Volk leisten
kann, das hat Preußen im Kriege der sieben Jahre und im Freiheitskampf glorreich
gezeigt, während überlegener Reichtum noch niemals die verhängnisvollen Folgen
sinkender Volkskraft hat verhüten können. Ein Staat ist keine Handelsgesellschaft. Für
den Wettkampf der Völker der Erde ist die wirtschaftliche Stärke von hervorragender
Bedeutung, aber die großen Entscheidungen hängen im letzten Ende von anderen Kräf-
ten ab und werden nicht auf dem wirtschaftlichen Wahlplatz ausgefochten. Die Binsen-
wahrheit, daß Geld allein nicht glücklich macht, gilt auch für die Nationen. Auch sie können
vermehrten Wohlstandes nur froh werden, wenn ihnen ein gesunder Geist in einem ge-
sunden Körper lebt. Die Regierung darf sich in ihren wirtschaftspolitischen Entschließun-
gen nicht wie ein geschickt spekulierender Kaufmann nach den günstigen Konjunkturen
richten, die dem einen oder anderen Wirtschaftsgebiet glänzende Perspektiven eröffnen,
sie muß ihre Wirtschaftspolitik der gesamten nationalen Politik unterordnen und ihre
Entschlüsse so fassen, daß nicht nmur das gegenwärtige wirtschaftliche Wohlbefinden des
Volkes vermehrt, sondern vor allem die künftige gesunde Entwicklung der Nation sicher-
gestellt wird. Die Doktorfrage, die sich die Nationalökonomie vielfach zur Beantwor-
tung aufgegeben hat: „Wie wird ein Volk reich, um gut leben zu können?“ muß die
103