Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
104 Innere Politik. I. Buch. 
  
Wirtschaftspolitik erweitern durch die andere: „Wie bleibt das Volk gesund, um lange 
leben zu können?“ Industrie und Handel vermehren unseren nationalen Wohlstand in 
höherem Maße und in geschwinderem Tempo, als es die Landwirtschaft je vermöchte. 
Ohne eine große und blühende Landwirtschaft an ihrer Seite würde die Industrie aber 
bald die besten Volkskräfte verbrauchen, ohne sie je ersetzen zu können. Die Landwirt- 
schaft ist Erzeugerin der Volkskraft, die die Industrie verbraucht, der breite Wurzel- 
boden, in dem die hochaufschießenden Bäume Industrie und Handel ruhen und aus dem 
sie ihre Nahrung ziehen. 
Mit Recht bewundern wir an den Industriezentren des Rheinlandes, Westfalens und 
Sachsens den Schwung, die Energie und das Organisationstalent der Unternehmer; an 
der Vollendung der industriellen Anlagen die Erfindungsgabe und Kühnheit unserer 
Techniker und Ingenieure, an der Qualität unserer Zndustrieerzeugnisse den Fleiß und 
die Gewissenhaftigkeit des deutschen Arbeiters. Mit Recht sind wir stolz auf die blü- 
hende Entwicklung unserer großen und mittleren Städte, die dem Emporkommen von 
Industrie und Handel ihre rasche Entfaltung verdanken. Wir haben seit dem Ausgang 
des Mittelalters eine Stadtentwicklung in großem Stil nicht wieder erlebt. Und wie 
beim Ausgang des Mittelalters sind auch die viel größeren und volkreicheren Städte der 
modernen Zeit Zentren regen geistigen und künstlerischen Lebens. Es ist unbillig, über 
die moderne Großstadtkultur in Bausch und Bogen das VBerdikt zu sprechen. Unter den 
kulturellen Einflüssen, die von den großen Städten ins Land dringen, sind gewiß manche, 
die auf die ursprünglichen Lebensgewohnheiten des Landes schädigend wirken. Aber 
diese Schäden werden vielfach aufgewogen durch die Erneuerung, die Verfeinerung der 
äußeren Lebenskultur, die wie in allen Zeiten so auch heute von den großen Städten aus- 
gehen. Gerade wer nicht blind ist gegen die schweren Gefahren einer übertriebenen Ver- 
stadtlichung unseres Vaterlandes, soll die vielfach hervorragenden Leistungen unserer 
deutschen Städte auf geistigem und kulturellem Gebiet anerkennen und die Spreu vom 
Weizen sondern. Es ist auch nicht richtig, die Schäden der Großstadtentwicklung allzu 
einseitig auf ethischem Gebiet zu suchen. Gesündigt wird intra und extra muros. Es gibt 
Gerechte und Ungerechte auf dem Lande wie in den Städten. Wir wollen auch nicht 
vergessen, daß gerade auf charitativem Gebiet die Städte mit mustergültigen Einrich- 
tungen vorangegangen sind, und daß in der Fürsorge für die unteren Volksklassen Bahn- 
brechendes von Industrieherren geleistet worden ist. 
Die Gefahren der Industrialisierung und damit Verstadtlichung Deutschlands liegen 
nicht so sehr auf dem schwer zu messenden und schwer zu wertenden Felde geistigen 
und sittlichen Lebens als auf phoysischem Gebiet. Die Gesundheit der Männer und 
die Fruchtbarkeit der Frauen leiden schwer unter dem Einfluß städtischen, insbeson- 
dere großstädtischen Lebens. In den Jahren 1876/80 entfielen im Königreich Preußen 
auf 1000 Frauen bis zu 45 Jahren durchschnittlich jährlich Lebendgeborene in den 
Städten 160, auf dem Lande 182. Zn den JLahren 1906/1910 waren die Zahlen 
gesunken in den Städten auf 117, auf dem Lande auf 168. Das bedeutet für die 
Städte einen Berlust von 45 Geburten auf 1000 Frauen. Im Stadtkreis Berlin 
allein sanken die Ziffern in derselben Zeit von 149 auf 84, also um 65. Das rapide 
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