108 Innere Politik. I. Buch.
ewigen Frieden orientieren. Unsere deutsche Landwirtschaft, die mit ihren Arbeits-
löhnen in Wettbewerb mit den hohen gewerblichen Löhnen steht, die auf altem Kultur-
boden nur mit den modernsten und koftspieligsten Betriebsmitteln intensio wirtschaften
kann, ist gar nicht imstande, zu Preisen produzieren zu können, wie es die großen jungen
Agrarländer vermögen, die mit niedrigen Arbeitslöhnen auf jungfräulichem Boden ar-
beiten. Unsere Landwirtschaft bedarf eines Zollschutzes. Es muß die Einfuhr auslän-
discher Agrarerzeugnisse so weit mit Zöllen belastet werden, daß das ausländische An-
gebot nicht unter einen Preis herabgehen kann, bei dem die einheimische Landwirtschaft
ihr gutes Auskommen findet. Schon die Herabsetzung der Agrarzölle zur Zeit der Ca-
privischen Handelspolitik hat unserer Landwirtschaft eine Krisis gebracht, die sie nur mit
zäher Arbeitsenergie und in der Hoffnung auf eine baldige günstigere Neuorientierung
der Zollpolitik hat überdauern können. Wenn wir auf einen ausreichenden Schutz der
landwirtschaftlichen Produktion verzichten, um auf die Lebensmittelpreise mit Hilfe billi-
ger Einfuhr zu drücken, so würde die Gefahr eintreten, daß der landwirtschaftliche Betrieb
mehr und mehr unrentabel würde und schließlich in wachsendem Umfange eingestellt
werden müßte. Wir würden den Weg Englands gehen.
Als ich in einer Zeit der Spannung zwischen Deutschland und England einem eng-
lischen Staatsmann darlegte, wie völlig unbegründet, ja unsinnig die englische Besorgnis
vor einem deutschen Angriff, und nun gar vor einer deutschen Invasion wäre, entgegnete
er mir: „Alles, was Sie sagen, ist richtig, und soweit ich persönlich in Frage komme,
stoßen Sie eine offene Tür ein. Was aber die englische öffentliche Meinung angeht und
den Mann auf der Straße, so dürfen Sie nicht vergessen, daß sich England in einer an-
deren Lage befindet als die Kontinentalmächte. Frankreich hat eine furchtbare Nieder-
lage erlitten, aber wenige Zahre nach Gravelotte und Sedan hatte es sich so weit erholt,
daß von einem „Krieg in Sicht“ die Rede sein konnte. Fast ebenso rasch hat Österreich die
Folgen von 1859 und 1866 ũberwunden. Trotz schwerer Niederlagen zu Wasser und zu
Lande und einer bösen Revolution hat Rußland nach dem Japanischen Krieg nicht auf-
gehört, eine von mehr als einer Seite umworbene Weltmacht zu sein. Anders England.
Unsere Bevölkerung lebt zu 80% in den Städten. Unsere Landwirtschaft vermag nur
noch ein Fünftel des in England verbrauchten Weizens und nur noch die Hälfte des uns
notwendigen Fleisches zu produzieren. Würde unsere Flotte besiegt und England vom
Außenhandel abgeschnitten werden, so würden wir innerhalb weniger Wochen die Wahl
haben zwischen Hungersnot und Anarchie oder einem Frieden auf Gnade und Ungnade.“
Länder mit blühender Landwirtschaft, Länder, wo wenigstens ein größerer Teil der Be-
völkerung in der Landwirtschaft tätig ist, wo die Landwirtschaft wenigstens zum Teil
den inneren Markt versorgt und einen großen Teil der notwendigen Nahrungemittel
liefert, sind in kritischen Zeiten widerstandsfähiger und erholen sich nach solchen viel
leichter als Länder, die nur auf Handel und Industrie angewiesen sind. Das hat schon
Karthago gegenüber Rom erfahren. Auch die höchsten Industrielöhne nutzen nichts,
wenn der Arbeiter für sein Geld keine Nahrungemittel im Lande findet. Und das kann
geschehen, wenn in Kriegszeiten die Grenzen ganz oder zum großen Teil gesperrt sind
und die einheimische Landwirtschaft nicht imstande ist, Nahrungemittel in ausreichender
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