Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
I. Buch. III. Wirtschaftspolitik. 109 
  
Menge zu produzieren. Was wir vielleicht im Frieden und für den Augenblick durch 
Preisgabe der Landwirtschaft an die ausländische Konkurrenz gewinnen würden, das 
müßten wir im Kriege am Ende mit Elend, Hunger und ihren katastrophalen Folgen für 
das staatliche und soziale Leben bezahlen. Unsere Landwirtschaft kann zahlreiche und vor 
allem leistungsfähige Betriebe nur aufrechterhalten, wenn sie geschützt wird durch einen 
ausreichenden Zoll auf die Einfuhr fremder landwirtschaftlicher Erzeugnisse. Dieser 
Schutz muß ihr gewährt werden. 
Der Staat hat die Pflicht, für alle Erwerbsstände und 
für alle Volksklassen zu sorgen. Er darf ein großes, 
wirtschaftlich bedeutungsvolles und national unent- 
behrliches Gewerbe wie die Landwirtschaft nicht die Kosten für ein besseres, bequemeres 
Gedeihen der anderen Erwerbsstände zahlen lassen. Der Staat muß seine Hilfe nach 
Maßgabe der Notdurft gewähren und die Allgemeinheit anhalten, sich in die notwen- 
digen Lasten zu teilen. So gerecht es ist, daß die lohnarbeitenden Klassen gewaltige un- 
mittelbare Zuwendungen aus Reichsmitteln erhalten, so gerecht ist es auch, daß die Eri- 
stenz der Landwirtschaft durch die mittelbare Hilfe des Zollschutzes gesichert wird. Das 
eine wie das andere ist ein nobile officium des Staates. Es ist ebenso falsch, von einer 
Bevorzugung der Landwirtschaft durch die Schutzzollpolitik zu sprechen, wie es verkehrt 
wäre, die Sozialpolitik als eine Bevorzugung unserer lohnarbeitenden Volksgenossen 
binzustellen. Die wahre staatliche Gerechtigkeit besteht nicht darin, jedem Stand, Gewerbe 
oder Staatsbürger das gleiche zu gewähren oder zu versagen, nur damit keine äußeren 
Unterschiede bestehen, das wäre nur eine mechanische Gerechtigkeit. Die wahre Ge- 
rechtigkeit besteht darin, einem jeden nach Möglichkeit zu geben, was er notwendig braucht. 
Diese Gerechtigkeit hatte ich im Auge, als ich zwei Monate vor Einbringung des Zoll- 
tarifgesetzes bei dem Festmahl, das mir in meinem Geburtsort Flottbeck am 21. Sep- 
tember 1901 der Pinneberger Kreistag gab, die wirtschaftliche Politik der Regierung 
Seiner Majestät dahin definierte, daß sie jedem das Seine geben wolle, getreu dem alten 
Hohenzollernschen Wahlspruch: Suum cuique. Unsere Zollpolitik hat eine doppelte 
Aufgabe zu erfüllen. Sie muß auf der einen Seite unsere einheimische Produktion in 
Landwirtschaft und Industrie durch ausreichenden Schutz fremder Konkurrenz gewachsen 
erhalten. Sie soll auf der anderen Seite durch langfristige Handelsverträge die auswär- 
tigen Märkte für unsere exportierende Industrie und unsern Außenhandel offenhalten. 
Um die erste Aufgabe erfüllen zu können, müssen wir uns mit Zollschranken umgeben, 
um der zweiten gerecht zu werden, den Zollschutz so halten, daß wir den anderen Staaten 
nicht den Abschluß für sie selbst einigermaßen annehmbarer Handelsverträge mit uns 
unmöglich machen. Handelsverträge sind wie kaufmännische Geschäftsabschlüsse. Beide 
Teile verlangen mehr als sie am Ende erwarten zu erhalten und kommen sich schritt- 
weise entgegen, bis auf irgendeiner Mitte das Geschäft zum Abschluß kommt. Beide 
Teile suchen unter möglichst geringen Opfern möglichst große Vorteile zu erringen. 
Der springende Punkt für jeden Staat ist der, Sorge zu tragen, daß nicht wichtige wirt- 
schaftliche Interessen preisgegeben werden. Zwischen Zollschutz- und Handelspolitik 
Gerechtigleit gegenüber 
allen Erwerbsständen. 
  
  
109
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.