Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

l. Buch. III. Wirtschaftepolitik. 111 
  
Festigkeit. Aber es durfte die Umwendung zur Agrarpolitik nicht in der Weise erfolgen, 
daß der Handel in seiner Entwicklung aufgehalten oder gar zurückgerissen wurde, d. h. 
der neue Zolltarif mußte den Abschluß günstiger und langfristiger Handelsverträge mög- 
lich machen. Die „„mittlere Linie“, die ich vor den Zolltarifkämpfen als Parole aus- 
gab, war damit vorgezeichnet. Sollte nicht das ganze Werk scheitern, so mußte auch nach 
der agrarpolitischen Seite hin Maß gehalten werden. In der Begründung der Regie- 
rungsvorlage hieß es: „Deutschlands künftige Handelspolitik wird zwar von dem Grund- 
satz auszugehen haben, daß ihre Maßnahmen zugunsten der Ausfuhrindustrie, nicht zu 
einer Beeinträchtigung des für die Erhaltung des Ackerbaues unentbehrlichen Zoll- 
schutzes führen dürfen. Andererseits kann aber die Ausfuhrindustrie mit NRecht erwarten, 
daß nicht zu ihrem Schaden die Rücksichtnahme auf die Landwirtschaft über das unerläß- 
liche Maß binausgehe.“ Diese Aufgabe war durch die Tarifgesetze gestellt, und sie ist 
während langer und fast beispiellos hartnäckiger parlamentarischer Kämpfe festgehalten 
und endlich gelöst worden. 
Sofort nach dem Bekanntwerden der neuen Tarifsätze erklärte die freihändlerische 
Presse, der Abschluß neuer Handelsverträge auf der Basis dieses Tarifs werde unmöglich 
sein: das Ende der deutschen Handelspolitik sei gekommen. Die extrem agrarischen 
Organe meinten ihrerseits, der Tarif könne auch die bescheidensten Landwirte nicht zu- 
friedenstellen. Zn der sozialistischen Presse hieß es: „Aieder mit dem Wuchertarif.“ 
Die Regierung sah sich auf beiden Flanken angegriffen und mußte in der Mitte durch- 
brechen, um ihr Werk zum Besten des allgemeinen Interesses, in erster Linie zum Besten 
der Landwirtschaft zum Erfolge zu führen. 
Wenn sich zwei extreme Anschauungen oder Forderungen gegenüberstehen, pflegen 
in der Politik, wie oft im menschlichen Leben, Bernunft und Wahrheit in der Mitte zu 
liegen. Die freihändlerische Demokratie verlangte, daß die Landwirtschaft in die Pfanne 
der Handelspolitik geworfen würde. Der Bund der Landwirte wollte die Aussicht auf 
Handelsverträge in die Pfanne der Agrarpolitik geworfen wissen. Das eine war so un- 
möglich wie das andere. Die agrarische Opposition mußte ebenso wie die freihänd- 
lerische überwunden werden. Der Ansturm war von beiden Seiten sehr heftig. Nur wenn 
die Regierung in den Hauptsätzen unbeugsam blieb, sich weder von der Opposition zur Rech- 
ten noch von der zur Linken herüberziehen ließ, konnte sie erwarten, die gemäßigten Par- 
teien schließlich auf der Mitte ihres Willens vereinigt zu sehen. Sozialdemokratie und frei- 
sinnige Vereinigung griffen zu dem Mittel der Obstruktion, um die sachliche Beratung der 
Vorlagen unmöglich zu machen und Neuwahlen zu erzwingen. In anerkennenswerter 
Objektivität wehrte sich der Abgeordnete Eugen Richter im Namen der freisinnigen Volks- 
partei gegen die Vergewaltigung der Mehrheit durch die Obstruktion der Minderheit, 
obwohl er selbst mit seinen Parteifreunden dem Zolltarif ablehnend gegenüberstand. 
Eine Zeitlang schien es, als würde sich eine Mehrheit für den Zolltarif überhaupt nicht 
finden, da ein Teil der Rechten nach dem Grundsatz „alles oder nichts“ die ganze zum 
Besten der Landwirtschaft unternommene Tarifreform ablehnen zu wollen schien. Es war 
das große Verdienst des Vorsitzenden des deutschen Landwirtschaftsrats, Grafen Schwerin- 
Löwitz, des zu früh heimgegangenen Grafen Kanitz und vor allem des damaligen 
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