Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
112 Inmere Politik. I. Buch. 
  
Führers der konservativen Partei, des Grafen Limburg-Stirum, daß sie sich durch die 
hpperagrarische Opposition nicht umwerfen und die konservative Partei nicht auf einen 
falschen Weg geraten ließen. Die gleiche, ebenso anerkennenswerte Einsicht und Wider- 
standskraft zeigte gegenüber freihändlerischen Tendenzen eines Teils der Liberalen der 
Abgeordnete Bassermann. So begegneten sich Konservative und Nationalliberale mit 
dem vom Grafen Ballestrem und dem Abgeordneten Spahn mit staatsmännischem Ge- 
schick geführten Zentrum auf dem Boden der Anträge des freikonservativen Abgeord- 
neten v. Kardorff. 
Die Opposition des um die landwirtschaftliche Sache sonst sehr verdienten Bundes 
der Landwirte zeigte, wie auch der besten Sache durch Ubertreibung geschadet werden 
kann. Um unerreichbarer Vorteile willen wurde der erreichbare Autzen aufs Spiel ge- 
setzt. Der ganze Zolltarif, der bestimmt war, der Landwirtschaft aus langem Notstande 
zu helfen, sollte verworfen werden, weil er nicht alles gab, was gefordert wurde. Ma’#- 
hat wohl gesagt, die Opposition des Bundes der Landwirte habe der Regierung gegen- 
über dem Auslande sowohl als auch gegenüber den Parteien den Rücken gestärkt und 
dadurch zum endlichen Erfolge beigetragen. Das ist nicht richtig. Die verbündeten Re- 
gierungen hatten von Anfang an keinen Zweifel darüber gelassen, was sie gewähren 
und was sie verweigern wollten. Sie hatten unzweideutig erklärt, daß sie sich grund- 
sätzliche Zugeständnisse weder von der einen noch von der anderen Seite nicht würden 
abhandeln lassen. Ich war von der Notwendigkeit vermehrten Zollschutzes für die Land- 
wirtschaft überzeugt genug, um den Ansturm von links aushalten zu können. Auf der 
anderen Seite war es selbstverständliche Pflicht, die Aussichten auf einen baldigen Ab- 
schluß neuer Handelsverträge von genügender Dauer nicht durch Zollschranken zu ver- 
bauen, die für das Ausland unübersteiglich gewesen wären. Die hyperagrarische Opposition 
hat damals nicht den Rücken der Regierung gestärkt, sondern die Waffen der Opposition ge- 
schärft. Die wirtschaftlichen Gegensätze wurden nur noch schärfer und in den Kreisen des 
Handels und der Exportindustrie konnte die falsche Meinung ins Kraut schießen, daß 
zwischen ihren und den landwirtschaftlichen Interessen sich eine unüberbrückbare Kluft 
öffne. Ganz und gar irrig aber war der auf extrem agrarischer Seite gehegte Glaube, 
daß nach Ablehnung der Regierungsvorlagen alsbald ein anderer Tarif vorgelegt werden 
würde, der sich die vom Bunde der Landwirte gewünschten Zollsätze zu eigen machte. 
Das wäre nicht geschehen und hätte nicht geschehen können. Die verbündeten Regie- 
rungen hielten eine Fortführung der Handelspolitik für unbedingt notwendig und für 
die unerläßliche Vorbedingung für jeden Zolltarif. Im Bundesrat hätte sich ganz sicher 
keine Mehrheit gefunden für eine Politik des zollpolitischen Va-banque-Spiels, bei dem 
die gesamte Wirtschaftspolitik auf die eine Karte der extremen Zölle gesetzt wurde. Die 
Sätze des Regierungstarifs stellten das Höchstmaß dessen dar, was die verbündeten Re- 
gierungen zu bewilligen bereit waren. Wäre dieser Tarif am agrarischen Widerstande 
gescheitert, so war nicht daran zu denken, daß ein agrarischerer eingebracht worden wäre. 
Es hätte bei den alten Caprivischen Sätzen sein Bewenden gehabt. Es wäre vielleicht 
für sehr lange Zeit alles beim alten geblieben. Die Bemerkung der Kreuzzeitung aus 
jenen Kampfestagen, der Bund der Landwirte lasse das deutsche Vaterland in schwerer 
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