I. Buch. III. Wirtschaftspolltik. 115
englischer Gewerkschaften eine NRundreise durch Deutschland unternahm, um unsere
A#beiterverhältnisse zu studieren, richtete, nachdem sie von unseren Wohlfahrtseinrich-
tungen Kenntnis genommen hatten, einer der Engländer an einen seiner deutschen Führer,
nebenbei gesagt, einen Sozialdemokraten, die erstaunte Frage: „Ja, warum agitiert
ihr denn eigentlich noch?“
Wirtschaftspolitik und Parteipolitik. Wenn trotzdem die wirtschaftlichen
Kämpfe nicht ruhen, die Gegensätze
zwischen den Erwerbsständen sich nicht mildern wollen, wenn im Gegenteil die Leiden--
schaften auf wirtschaftlichem Gebiet aufgewühlter, Hader und Mißgunst zwischen den
Erwerbsständen erbitterter sind als je, so liegt dafür die Ursache nicht in einer Brüchig-
keit, einer Unausgeglichenheit unserer Wirtschaftspolitik, sondern in der Unvollkommen--
heit unseres innerpolitischen Lebens. Wie die deutschen Parteien in rein politischen Fra-
gen ihre Haltung mit Vorliebe nicht nach Erwägungen der Zweckmäßigkeit, sondern
nach der jeweiligen Feindschaft gegen diese oder jene Partei orientieren, so noch weit
mehr in wirtschaftspolitischer Beziehung. Deutschland ist vielleicht das einzige Land,
in dem die praktischen wirtschaftlichen Fragen peinlich und kleinlich auf den Leisten der
Parteipolitik geschlagen werden. Mit alleiniger Ausnahme des auch in diesen Dingen
praktischen Zentrums, hat jede Partei, sei sie groß, sei sie klein, ihre eigene Wirt-
schaftspolitik, oder wenigstens ihre wirtschaftspolitische Spezialität, der die wirtschaft-
lichen Fragen untergeordnet werden. Das gehört zum parteipolitischen Dogmatismus.
Wir haben fast so viele verschiedene finanzpolitische, agrarpolitische, handelspolitische,
verkehrspolitische, sozialpolitische, zollpolitische, steuerpolitische und sonstige wirtschafts-
politische Auffassungen wie wir Parteien haben. ODer deutsche Parteimann spinnt
sich so fest in seine wirtschaftspolitischen Parteianschauungen ein, daß er alsbald auto-
suggestio diese Anschauungen für unlösbar verbunden mit seinen eigenen Berufs-
interessen und Magenfragen hält und nach der wirtschaftspolitischen Seite hin den
Parteikampf mit der Erbitterung führt, die nur der Egoismus erzeugen kann. Wir
haben keine Partei, die sagen darf, daß sie nur einen einzigen Erwerbsstand vertritt,
nicht einmal die Sozialdemokratie darf das von sich behaupten. Trotzdem haben bis auf
das Zentrum alle den wirtschaftspolitischen Kampf oft mehr oder minder so geführt, als
gälte es für jede nur die Vertretung eines einzigen Erwerbsstandes. Freilich stützen sich
die Konservativen vorwiegend auf den Grundbesitz, die Nationalliberalen auf die Indu-
strie, der Freisinn auf den Handel. Das liegt an den politischen Traditionen der betreffen-
den Volkskreise. Wenn sich aber die Parteien mehr und mehr zu berufsständischen In-
teressenvertretungen entwickeln, so hat das seine großen Gefahren, in wirtschaftlicher
Beziehung wie in politischer und nationaler. Stehen sich die Erwerbsstände schließlich
als politische Parteien gegenüber, so wird von einer Erledigung wirtschaftspolitischer
Fragen, bei der alle Erwerbszweige ihren Vorteil finden, nicht mehr die Rede sein.
Die Interessengegensätze werden völlig unversöhnlich werden. Zeder Stand wird im
Nachteil des anderen den eigenen Vorteil sehen. Und die wirtschaftlichen Differenzen
werden, wenn nicht eine starke Regierung die Führung in Händen hat, nach Art partei-
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