Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
120 gnnere Politil. I. Buch. 
  
deutsches Land. Noch im 14. Zahrhundert war die Rhone an ihrem Oberlauf deutsche 
Reichsgrenze. Aber diese Gebiete gingen verloren, politisch durch den Verfall der deutschen 
Reichsmacht, völkisch, weil unser nationaler Körper in der Tat das weite Gewand des 
heiligen Reiches nicht auszufüllen vermochte. Kein Verständiger wird sich je mit dem 
Gedanken an die nationale oder politische Wiedergewinnung der vor Zahrhunderten 
verlorenen West- und Südlande tragen. Um die Zeit, in der wir im Westen an Boden 
einbüßten, hatten wir im Osten schon Ersatz gefunden, fluteten die Deutschen schon zurück 
in die alte germanische Heimat, die während der sogenannten Völkerwanderung verlassen 
worden, in die slawische Volksstämme nachgedrängt waren. Und die deutschen Kolonisten, 
die sich östlich der Elbe, die sich jenseits der Oder, an der Weichsel, am Pregel festsetzten, 
kamen her aus den westlichen Landstrichen, nicht wenige eben aus jenen Gebieten, die 
wir später einbüßten. Mit Recht kann man von einem Zurückfluten der deutschen Volks- 
welle sprechen. 
Die gewaltige östliche Kolonisationsarbeit ist das beste, das dauerndste Ergebnis 
unserer glanzvollen mittelalterlichen Geschichte geworden, eine Arbeit, die nicht geleistet 
worden ist von einem einzigen der deutschen Stämme, sondern von allen gemeinsam. 
Sie alle, Sachsen, Franken, Bayern, Schwaben, Thüringer, Lothringer, Flanderer und 
Friesen haben ihre Stammesangehörigen in den deutschen Osten gesandt, Weltliche 
und Geistliche, Ritter und Bauern. Das neue ostelbische Kolonialland überbrückte zu- 
erst die in jenen Zeiten noch vielfach tiefen Gegensätze zwischen den deutschen Stämmen. 
Es war allgemein-deutsches Land mit einer Bevölkerung, die nichts anderes war und 
sein wollte als deutsch, im Gegensatz zu Wenden und Polen. Wenn später diese ostelbischen 
Stammlande der brandenburgisch-preußischen Monarchie in trüber Zeit zuerst wieder 
einen deutschen Willen gegen das Ausland fanden, wenn von ihnen in unserer Zeit 
unter dem schwarz-weißen Banner des deutschen Ordensstaates die Einigung der 
deutschen Länder- und Völkermasse im neuen Reich verwirklicht wurde, so lagen in 
der Entstehung und Besiedelung dieser deutschen Kolonistenlande die ersten frühen 
Voraussetzungen. Was im Mittelalter die deutschen Stämme des Westens und Südens 
dem unwirtlicheren Osten gaben, das gab ihnen dieser Osten tausendfältig wieder, 
als Preußen dem ganzen Deutschland die staatliche Einigung brachte. 
Die Zahrhunderte der Ottonen, Salier und Hohenstaufen haben Taten gesehen 
und Ereignisse von blendenderem Elanz als die tapfere fleißige Kolonisierung Ost- 
elbiens, aber nichts Größeres. Von dem romanischen Schimmer der Kreuz- und Römer- 
züge ist auch die Eroberung des alten Preußenlandes durch den deutschen Nitterorden 
nur ein schwacher Abglanz. Und die zähe Kulturarbeit der Mönchsorden in den östlichen 
Wäldern und Sümpfen, der deutschen Bürger in den neuentstehenden östlichen Städten 
nehmen sich vollends prosaisch und hausbacken aus neben den großartigen, aber un- 
glücklichen Abenteuern der alten kaiserlichen Weltpolitik. Aber es war, wie so oft in der 
Geschichte, das Glänzende, das aller Augen auf sich zog, nur für den Augenblick geboren, 
um bald zu verschwinden, während das Unscheinbare, was sich gleichsam auf einem 
NRebengeleis der deutschen Geschichte vollzog, das Echte war, das der Zukunft unverloren 
blieb. Wir haben heut mit größerem Dank des deutschen Ordens, der uns Preußen gab, 
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