14 Auswärtige Politik. I. Buch.
England an der Seite Preußens, und zwar gerade in kritischen Zeiten preußischer Ge-
schichte während des Siebenjährigen Krieges und im Zeitalter Napoleons I. Es war
aber weniger gemütvolle Sympathie mit dem kühn und mühevoll emporstrebenden
blutsverwandten Staat im deutschen Norden, was die englische Haltung bestimmte.
England trat für englische Zwecke an die Seite des tüchtigsten Gegners der stärksten
europäischen Macht und ließ Friedrich den Großen in schwerer Stunde, ließ Preußen auf
dem Wiener Kongreß kaltblütig im Stich, als es seine Zwecke erreicht sah. Während der
Fesselung der französischen Kräfte im Siebenjährigen Kriege brachte England seinen
nordamerikanischen Besitz in Sicherheit. In den großen Jahren 1813 bis 1815 zertrümmerte
die stürmische Tapferkeit Preußens endlich und endgültig die napoleonische Weltherrschaft.
Als Preußen in Wien um jeden Quadratkilometer Land bitter hadern mußte, hatte Eng-
land seine Weltmacht errungen und konnte sie nach der Niederwerfung des französischen
Gegners für absehbare Zeit als gesichert ansehen. Als Feind der stärksten Kontinental-
macht waren wir Englands Freund, durch die Ereignisse von 1866 und 1870 wurde
Preußen-Deutschland die stärkste Macht des europäischen Festlandes und rückte in der
englischen Vorstellung allmählich an den Platz, den früher das Frankreich des Sonnen-
königs und der beiden Bonapartes eingenommen hatte. Oie englische Politik folgte ihrer
traditionellen Richtung, die Front gegen die jeweilig stärkste Kontinentalmacht zu nehmen.
Nach dem Niedergange des habsburgischen Spaniens war das Frankreich der Bourbonen
Englands natürlicher Gegner, von der hervorragenden Teilnahme Marlboroughs am
spanischen Erbfolgekrieg bis zum Bündnis mit dem Sieger der Schlacht bei Roßbach,
die in London wie ein Triumph der britischen Waffen gefeiert wurde. Nach den Jahr-
zehnten eifersüchtigen Mißtrauens gegen das unter Katharina lI. mächtig erstarkende
Rußland wandte sich die englische Politik aufs neue und mit voller Energie gegen Frank-
reich, als Bonaparte die Armeen der Republik zum Siege über alle Staaten des europäi-
schen Festlandes führte. In dem Ringkampf zwischen dem ersten Kaiserreich und England
blieb England Sieger, gewiß in erster Linie dank der unerschütterlichen und grandiosen
Stetigkeit seiner Politik, dem Heldenmut seiner Blaujacken bei Abukir und Trafalgar
und den Erfolgen seines eisernen Herzogs in Spanien, aber auch durch die Zähig-
keit der Russen und ÖOsterreicher und den Ungestüm unseres alten Blücher und seiner
Preußen. Als nach dem Sturz Napoleons das militärische Ubergewicht vom Westen
Europas auf den Osten überzugehen schien, wandte England seine politische Front.
An dem für Rußland unglücklichen Ausgang des Krimkrieges und an dem Scheitern der
hochfliegenden Pläne des stolzen Kaisers Nikolaus I. hatte England hervorragenden Anteil,
und auch Kaiser Alexander lI. fand die englische Politik nicht selten auf seinen politischen
Wegen, am fühlbarsten im nahen Orient, dem alten Hoffnungsfelde russischen Ehrgeizes.
Dasenglische Bündnies mit Japan ging aus ähnlichen Erwägungen hervor wie die entente
cordiale mit Frankreich, die die internationale Politik der Gegenwart entscheidend be-
einflußt.
Das Interesse, das England an der Gestaltung der Machtverhältnisse auf dem euro-
päischen Festlande nimmt, gilt selbstverständlich nicht allein dem Wohlbefinden derjenigen
Mächte, die sich durch die überlegene Stärke einer einzigen unterdrückt oder bedroht fühlen.
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