I. Buch. Auswärtige Politik. 15
Solche menschenfreundliche Anteilnahme pflegt selten einen überwiegenden Einfluß auf
die politischen Entschließungen der Regierung eines großen Staates auszuüben. Für die
Kichtung der englischen Politik sind die Rückwirkungen der europäischen Machtverhält-
nisse auf die englische Seeherrschaft maßgebend. Und jede Machtverschiebung, die eine
solche Wirkung nicht im Gefolge haben konnte, ist der englischen Regierung immer ziem-
lich gleichgültig gewesen. Wenn England traditionell, das heißt seinen unveränderlichen
nationalen IZnteressen angemessen, der jeweils stärksten Kontinentalmacht unfreundlich
oder mindestens argwöhnisch gegenübersteht, so liegt der Grund vornehmlich in der Be-
deutung, die England der überlegenen kontinentalen Macht für die überseeische Politik
beimißt. Eine europäische Großmacht, die ihre militärische Stärke so drastisch gezeigt hat,
daß sie im normalen Lauf der Dinge eines Angriffs auf ihre Grenzen nicht gewärtig zu
sein braucht, gewinnt gewissermaßen die nationalen Ezistenzbedingungen, durch die
England zur ersten See- und Handelsmacht der Welt geworden ist. England durfte mit
seinen Kräften und seinem Wagemut unbesorgt auf das Weltmeer gehen, weil es seine
heimischen Grenzen durch die umgebende See vor feindlichen Angriffen geschützt wußte.
Besitzt eine Kontinentalmacht eben diesen Schutz der Grenzen in ihrer gefürchteten, sieg-
reichen und überlegenen Armee, so gewinnt sie die Freiheit zu überseeischer Politik,
die England seiner geographischen Lage dankt. Sie wird Wettbewerberin auf jenem Felde,
auf dem England die Herrschaft beansprucht. Oie englische Politik fußt hier auf den Er-
fahrungen der Geschichte, man könnte fast sagen, auf der Gesetzmäßigkeit in der Entwick-
lung der Nationen und Staaten. Noch jedes Volk mit gesundem Instinkt und lebens-
fähiger Staatsordnung hat an die Meeresküste gedrängt, wenn sie die Natur ihm versagt
hatte. Um Küstenstriche und Hafenplätze ist am hartnäckigsten und bittersten gerungen
worden, von Kerkpra und Potidäa, um die sich der Peloponnesische Krieg entzündete,
bis zu Kavalla, um das in unseren Tagen Griechen und Bulgaren haderten. Völker, die
das Meer nicht gewinnen konnten oder von ihm abgedrängt wurden, schieden still-
schweigend aus dem großen weltgeschichtlichen Wettbewerb aus. Der Besitz der Meeres-
küste bedeutet aber nichts anderes als die Möglichkeit zu überseeischer Kraftentfaltung und
letzten Endes die Möglichkeit, die kontinentale Politik zur Weltpolitik zu weiten. Die
Völker Europas, die ihre Küsten und Häfen in diesem Sinne nicht nutzten, konnten es
nicht tun, weil sie ihre gesamte nationale Kraft zur Berteidigung ihrer Grenzen gegen
ihre Widersacher auf dem Festlande nötig hatten. So mußten die weitausschauenden
kolonialpolitischen Pläne des Großen Kurfürsten von seinen Nachfolgern aufgegeben
werden.
Der stärksten Kontinentalmacht standen die weltpolitischen Wege stets am freiesten
offen. Auf diesen Wegen aber hielt England die Wacht. Als Ludwig XIV. bei Karl II.
ein französisch-englisches Bündnis anregte, erwiderte ihm dieser im übrigen sehr franzosen-
freundliche englische König, es stünden einem aufrichtigen Bündnis gewisse Hindernisse
im Wege, und von diesen sei das vornehmste die Mühe, die sich Frankreich gebe, eine
achtunggebietende Seemacht zu werden. Das sei für England, das nur durch seinen
Handel und seine Kriegsmarine Bedeutung haben könne, ein solcher Grund zum Arg-
wohn, daß jeder Schritt, den Frankreich in dieser Richtung tun werde, die Eifersucht
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