Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
II. Buch. Staats- und Verwaltungerecht. 35 
  
vertrag, durch den Preußen die gesamte Verwaltung von Waldeck dauernd kraft des 
sog. Akzessionsvertrages bereits seit 1867 übernommen hat. Znsbesondere hat Preußen 
für alle deutschen Kleinstaaten Eisenbahnverbindungen hergestellt. Der mit den thürin- 
gischen Staaten bestehende Zoll- und Handelsverein wurde 1890 erneuert und erweitert. 
In weitem Umfange mußte die preußische 
Gesetzgebung tätig werden zur Ausführung 
von Reichsgesetzen, sei es, daß deren Vollzug vom Reiche allgemein in Selbstver- 
waltung der Einzelstaaten gegeben worden war, sei es, daß Reichsgesetze einer landes- 
rechtlichen Ergänzung bedurften. So mußte Preußen 1899 umfassende Ausführungs- 
gesetze zum Bürgerlichen Gesetzbuch, zum neuen Handelsgesetzbuch, zum Reichsgesetz 
über die freiwillige Gerichtsbarkeit, zum Reichsgesetz über Zwangeversteigerung und 
Zwangsverwaltung, zur Zivilprozeßordnung erlassen; in denjenigen Teilen der Monarchie, 
in denen das Grundbuch eine vollkommene Neuerung darstellte, also in den gesamten 
westlichen Landesteilen, mußten landesrechtlich die erforderlichen Anordnungen und Ein- 
richtungen für Herstellung von Grundbüchern unter Aufhebung der bisherigen Hppotheken- 
ämter getroffen werden; für Ausführung des Reichsunfallversicherungsgesetzes für Land- 
und Forstwirtschaft wurden landesgesetzlich Berufsgenossenschaften für den Umfang der 
Provinzen mit Sektionen für den Umfang der Kreise gebildet; zur Durchführung der 
Reichsgesetzgebung über die Unterdrückung der Biehseuchen bedurfte es einer umfassen- 
den Landesgesetzgebung; das Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz fand eine 
wichtige Ergänzung seiner landeerechtlichen Ausführungsvorschriften 1912 durch neue 
gesetzliche Bestimmungen über die Unterbringung Hilfsbedürftiger in Arbeitsanstalten 
sowie über Heranziehung Unterhaltungspflichtiger zu den Armenlasten; für Durchführung 
der Maß- und Gewichtsordnung des Reiches (1908) mußte landeerechtlich der erforder- 
liche Behördenapparat und zwar in Trennung von den Kommunalbehörden geschaffen 
sowie die Dienstaufsicht geregelt werden. Oie landeerechtliche Tätigkeit zur Aus- und 
Durchführung von Reichsgesetzen ist in der Entwickelung des deutschen Bundesstaates 
immer bedeutsamer geworden, und es hat sich dabei gezeigt, wie richtig es seinerzeit 
war, bei Aufrichtung des deutschen Gesamtstaates diesen Gedanken der einzelstaat- 
lichen Selbstoerwaltung von Reichsangelegenheiten in unser Reichsstaatsrecht 
aufzunehmen und immer weiter auszugestalten. Das Staatsleben des Gesamtstaates 
und der Einzelstaaten wird dadurch immer enger verbunden, ja verwächst in so hohem 
Grade ineinander, daß eine Trennung geradezu zur Unmöglichkeit wird. Das staats- 
rechtliche Prinzip, für viele Gebiete der Reichsgesetzgebung nicht eine „eigene und un- 
mittelbare“ Reichsverwaltung zu schaffen, sondern sie in „Selbstoerwaltung“ der Einzel- 
staaten zu geben — dem schweizerischen und nordamerikanischen Bundesstaatsrecht ur- 
sprünglich fremd und erst unter deutschem Einfluß ausgenommen — hat für die Festigung 
der Einheit des deutschen Bundesstaates die segensreichsten Folgen gehabt. 
Insbesondre haben diese Grundsätze Anwendung gefunden für die Gestaltung der 
Rechtspflege innerhalb des Reiches. Der Erleichterung und Verbesserung der Rechts- 
pflege dienten außerdem zahlreiche gesetzliche Maßnahmen organisatorischer Natur auf 
6. Ausführung von Reichsgesetzen. 
  
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