Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
56 Die Selbstverwaltung. II. Buch. 
  
der verschiedensten Art, in der Schaffung weitverzweigter Gemeindebetriebe zu einem 
derartigen Aufschwunge kommen können, wie ihn die letzten Jahrzehnte in Deutschland 
gesehen haben. Kaum eine Stadt, selbst unter den kleinsten und entlegensten, in welcher 
die Segnungen der Gesamtentwickelung des Vaterlandes, des wachsenden Wohlstandes, 
der stetigen Arbeit an der Berbesserung der Grundlagen für das Vorwärtskommen aller 
Berufsstände nicht irgendwie merkbar zu Tage getreten wären. — 
Oies vorausgeschickt, mag nunmehr zunächst 
die Entwickelung der Selbstverwaltung als 
Organisationsform näherer Betrachtung 
Entwickelung der Selbstver- 
waltung als Organisationsform. 
  
  
unterworfen werden. 
Eine gesetzliche Veränderung ihrer wesentlichsten Grundlage: der weitestgehenden 
Durchdringung amtlich-obrigkeitlicher Verwaltung mit der ehrenamtlichen Tätigkeit aller 
zu gemeinnütziger Mitarbeit bereiten Bürger einer Gemeinde zwecks selbständiger Er- 
ledigung aller nicht der Staatsverwaltung besonders vorbehaltenen Gemeindeaufgaben, 
hat während des letzten Vierteljahrhunderts ebensowenig wie während des ganzen letzten 
Zahrhunderts stattgefunden. Die von Anfang an in Oeutschland hauptsächlich ver- 
tretenen beiden Selbstverwaltungsformen bestehen noch heute im Wesentlichen unver- 
#ndert fort. Die sogenannte Kollegial-Verfassung — mit ihrem NMagistrat (NRat, 
Senat, Stadtrat) und Stadtverordneten-Versammlung, oder Magistrat und Gemeinde- 
Ausschuß, oder Gemeinderat- und Bürgerausschuß, die teils als Verwaltungskörper und 
Kontrollorgan, teils auch als gemeinsam wirkende Verwaltungskörperschaften tätig sind 
— und andererseits die an napoleonische Vorbilder angelehnte sogenannte Bürger- 
meisterei-BVerfassung — mit dem Bürgermeister und seinen Beigeordneten als Ver- 
waltern und den unter dem Vorsitz des Bürgermeisters als Kontrollorgan tätigen Stadt- 
verordneten. — Oie Frage, welche dieser beiden Formen den Vorzug verdient, wird sich 
einwandfrei schwer entscheiden lassen. Scheint die Kollegial-Berfassung den unter ihr 
Wirkenden vielleicht den Gedanken des Ehrenamtes und die Zweiteilung von „Verwal- 
tung“ und „unabhängiger öffentlicher Kontrolle“" schärfer zu betonen, so dürfen die An- 
hänger der Bürgermeisterei-Verfassung hinwiederum auf ihre größere Einfachheit und 
dadurch Beweglichkeit hinweisen. Ihre Aufgaben hat die Selbstverwaltung, wie die 
Erfahrung lehrt, auch unter den immer vielgestaltigeren Berhältnissen der letzten Jahr- 
zehnte, in der einen wie der anderen Form bisher zu erfüllen vermocht. 
Freilich kann nicht geleugnet werden, daß dabei je ver- 
zweigter ihre Aufgaben wurden, auch für die Selbst- 
verwaltung, ebenso wie für den Staat, allerlei neue 
organisatorische Fragen und Bedenken aufgetaucht sind. In der VBerwaltungsinstanz 
mußte mit der vermehrten Bedeutung, sei es der technischen, sei es anderer Spezial- 
Verwaltungsgebiete, die Zahl der besonders vorgebildeten beamteten Mitglieder 
naturgemäß fast überall vermehrt werden. Zu ihren auch früher schon vorhande- 
nen Stadtkämmerern und Soyndicis- Schulräten und -Bauräten sah man besondere 
Anwachsen der 
Verwaltungskollegien. 
  
  
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