Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

Die Reichsversicherung 
Von Dr. Fritz Stier-Somlo, Professor an der Hochschule für kommunale und soziale Ver- 
waltung in Köln a. Rh. 
Mit der bewußten Organisation der 
Arbeiterklasse in Deutschland, mit dem 
Entstehen der sozialen Frage modernster Prägung waren dem Staate große Aufgaben von 
besonderer Eigenart, insbesondere nach Aufrichtung des Oeutschen Reiches, gestellt. 
Es galt nicht bloß, durch die vielverzweigten Maßnahmen einer nationalen Wirtschafts- 
politik die in der Natur der Menschen und in den Lebensverhältnissen gegebenen Un- 
gleichheiten nach Möglichkeit zugunsten der arbeitenden Schichten auszugleichen. Es 
war nicht nur notwendig, in Heer und Volkseschule dieienige Disziplin und Aufklärung 
zu schaffen, die befähigen sollte, den Verlockungen törichter Zukunftstaats-Sdeen in 
der Richtung eines Sozialismus marzistischer Färbung zu widerstehen, die unerschütter- 
liche, zur Selbstopferung bereite Liebe zum Vaterland an die Spitze aller bürgerlichen 
Tugenden zu stellen. Es mußte vielmehr auch an eine Eingliederung der weniger be- 
mittelten Volkskreise in die Organisationsformen des Staates gedacht, die zu gewährende 
Fürsorge in den Fällen der Krankheit, des Unfalls und der Invalidität, die die Gemein- 
schaft als solche bietet, ausgestalteet werden. Zwei heute vielfach herrschende Auffassungen 
stehen hiermit nicht in Widerspruch. Nach der einen wollte man bei der Einführung 
der neuen Zollpolitik seit der Mitte der 70 er Zahre des 19. Zahrhunderts den Massen, die 
stärker belastet wurden, in der Sozialgesetzgebung einen #lusgleich bieten. Die andere 
Meinung ging davon aus, daß der moderne Wirtschaftsbetrieb, insbesondere der Industrie, 
mit immer vollkommeneren, aber auch verwickelteren maschinellen Hilfsmitteln, be- 
sondere Gefahren, die man früher nicht kannte, für die Arbeiterschaft herbeiführte, und 
daß es deshalb notwendig sei, vorbeugende, beilende und Ersatz für Erwerbsminderung 
schaffende Maßnahmen zu treffen. Hinzu kam, daß die Erfahrung die Unfähigkeit der 
wirtschaftlich schwächeren Kreise lehrte, sich selbst, ohne Hilfe des Staates, der neuartigen 
Gefahren zu erwehren. Der Schutz der Schwachen und Bedürftigen ist von den Hohen- 
zollern seit den Tagen des Großen Kurfürsten nie aus dem Auge gelassen worden. Es 
waren diese Gesichtspunkte ohne Zweifel von großer Bedeutung für die Entstehung 
der sozialen Versicherung. Ihre große Wichtigkeit liegt auch darin, daß sie den 
NKahmen der Armen- und Wohltätigkeitspolitik sprengt, nicht bloß Almosen, sondern 
Beweggründe einer sozialen Fürsorge. 
  
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