Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
7# Die Reichspersicherung. II. Buch. 
konnte, und obwohl auch die Invalidität als eine Folge der Krankheit nicht zu 
Übersehen war, so mußte doch die innere Verschiedenheit der Versicherungszweige bei 
der endgültigen Regelung den Ausschlag geben. Die Krankenversicherung war 
bestimmt für leichtere und vorübergehende Fälle der Krankheit. Ihre Leistungen, an 
sich bedeutsam genug, hatten nur den Zweck, die Gesundheit wieder herzustellen 
und die Arbeitsfähigkeit zu bewirken. Oie Krankenkassen als die Träger dieser 
Versicherung bedurften zwar zweifellos großer, aber im Einzelfalle nicht über- 
schwenglicher Mittel, um hier dem Bedürfnisse gerecht zu werden. Hingegen hat die 
Unfallversicherung mit ganz anderen Faktoren zu rechnen. Wenn auch durch die Un- 
fallverhütungsvorschriften vorbeugender und durch das Heilverfahren möglicherweise Ge- 
sundheit herstellender Natur, sind doch ihre haupsächlichen Leistungen: die Renten für den 
Verletzten und seine Hinterbliebenen, an die Voraussetzung lebenslänglicher und nur ver- 
hältnismäßig selten kürzerer Gewährung gebunden; ihr kapitalisierter Wert ist außer- 
ordentlich hoch. Ahnliches läßt sich auch von der Invalidenversicherung sagen. Auch die 
Organisationsformen sind durchweg verschieden gewesen und konnten in eine Einheits- 
form nur nach gefährlicher Umwandlung gebracht werden. Bei der Krankenversicherung 
war es die Selbstverwaltung vor allem der Arbeiter, bei der Unfallversicherung aus- 
schließlich die der Unternehmer, bei der Invalidenversicherung der spezifisch staatliche 
Tharakter der Verwaltung, der das hervorstechende Kennzeichen bildete. Auch die Ver- 
mögensverhältnisse waren sehr verschieden. Den großen Kapitalansammlungen der 
Versicherungsanstalten, die diese zu wohltätigen und gemeinnützigen Zwecken als An- 
leihen verwandten, stand die häufige Vermögenslosigkeit der Kassen, von denen nur ein 
geringer Teil den gesetzlichen Reservefonds auffüllte, gegenüber. Eine Zersplitterung 
des Kassenwesens sondergleichen, das Bestehen von Zwergkassen, das Schwindelwesen 
bei vielen eingeschriebenen Hilfskassen, nicht zuletzt die Notwendigkeit, den immer größer 
werdenden sozialpolitischen Anforderungen in bezug auf die Leistungen zu genügen, 
trieben in die Segel des Reformschiffes günstige Winde, die denn auch schließlich zum 
Reichsversicherungsordnung. Hafen führten. In der Gestalt der Reichsver-- 
sicherungsordnung vom 19. Juli 1911 ist eine 
großzügige Kodifikation der gesamten Arbeiterversicherung im engeren Sinne ent- 
standen. Aicht nur sind die bisherigen drei Zweige zusammengefaßt und durch einen 
neuen, der die Hirnterbliebenenversicherung betrifft, ergänzt worden; vielmehr 
stand dieser äußeren Vereinheitlichung auch eine Fülle von neuen, fruchtbaren gesetz- 
geberischen Gestaltungen materieller Art zur Seite. Wohl ist so mancher Wunsch unerfüllt 
geblieben, den warmherzige, aber auch die praktische Durchführbarkeit wohl bedenkende 
Sachverständige geltend gemacht haben. Immerhin ist auch hier auf einer Mittellinie 
das zur Zeit denkbar Beste geleistet worden. Freilich bleibt Wissenschaft und Prazis 
noch eine UÜberfülle von Arbeit, dieses neue Recht in die Wirklichkeit überzuführen, an 
seiner Ausgestaltung zu arbeiten, seine Lücken auszufüllen, seine Mängel zu verbessern. 
  
Angestelltenversicherung. Schon seit mehreren Jahren jedoch war eine leb- 
hafte Bewegung, die von ÖOsterreich ihren Ausgangs- 
  
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